Urban Gothic (German Edition)
Licht zu sehen, als sie in der Ferne einen Schimmer wahrnahm. Anfangs glaubte sie, dass die Augen ihr einen Streich spielten, doch der Schimmer blieb und vergrößerte sich allmählich, als sie darauf zuging. Sie sog die Luft ein und hustete. Es roch immer noch nach Schlamm und Dreck, und jedes Mal, wenn sie durch die Nase einatmete, hatte sie das Gefühl, sich übergeben zu müssen. Deshalb bemühte sie sich, die Luft weitgehend durch den Mund zu inhalieren. Ihre nackten Füße spürten keinen Schmerz mehr, wirkten wie abgestorben. Sie fror, war nass und dreckig, fühlte sich elend, blutete aus Dutzenden kleinen Schnitten und Kratzern und war halb wahnsinnig vor Angst. Doch all das spielte aufgrund des hellen Schimmers eine untergeordnete Rolle für sie. Als sie begriff, dass sie tatsächlich ihre Umgebung erkennen konnte, wenn auch von Schatten überlagert, hätte sie beinahe geweint, überwältigt von einer gegensätzlichen Gefühlsmixtur aus Erleichterung und Furcht.
Die Details der umgebenden Wände empfand sie nicht als übermäßig ermutigend. Als sie weiterlief und sich ihre Augen immer besser an das Licht gewöhnten, fielen ihr die groben Bretter und halb verrotteten Spanplatten auf, die benutzt wurden, um die Seiten des abschüssigen Tunnels zu stützen. Schwarze und rotstichige Sickermasse quoll wie Schweiß durch die Lücken zwischen den Brettern hervor. Der Lehm hinter dem Holz hatte sich tiefrot verfärbt, dazwischen bemerkte sie vereinzelt Kalkstein. Hatte sich der Geologie-Kurs im letzten Semester doch gelohnt! Anscheinend mündete der Tunnel an dieser Stelle in eine natürliche Kalksteinhöhle.
Sie fragte sich, ob Javier, Kerri und Brett noch lebten. Sie hatte seit Beginn ihrer Flucht nichts mehr von ihnen gehört. Auch von ihren Verfolgern nicht. Die Stille wirkte bedrückend und verstärkte ihr unangenehmes Gefühl. Heather konzentrierte sich auf das Licht vor ihr. Es wurde eindeutig heller. Mit Sicherheit wusste sie es, als sie ihre Hände betrachtete und das Hellrosa ihres Nagellacks sah, das sie zuvor nur als vage gräuliche Färbung an den Fingerspitzen wahrgenommen hatte.
Der Gang begann, steiler abwärts zu verlaufen. Heather hatte keine andere Wahl, als ihm zu folgen. Die provisorischen Wände machten natürlichem Stein Platz. Die Luft verbesserte sich. Kein feuchter, bitterer Geruch von Schimmel und Schlamm mehr. Als sie den Weg fortsetzte, wurde die Luft beißend und trockener, als sie erwartet hätte. Auch neue Aromen tauchten auf. Sie nahm ausgerechnet Salz wahr, und noch etwas anderes, das sie an Mottenkugeln erinnerte.
Die Decke wurde immer niedriger, und Heather sah sich gezwungen, gebückt zu laufen. Nach weiteren sechs Metern konnte sie nur noch auf Händen und Knien kriechen. Scharfkantige Steine schrammten an ihrer Haut. Aus Ritzen in der Steindecke sickerte Wasser, das ihr auf Kopf und Rücken tropfte. Dann begradigte sich der Boden wieder und der Pfad durch den Tunnel stieg leicht an. Das Licht wurde so hell, dass Heather die Augen zusammenkneifen musste, und schließlich sah sie nicht länger nur den Tunnel vor sich.
Sie kroch in eine Kammer, die man ausgeräumt hatte und die sowohl dicke Säulen aus Holz als auch alte und neue Metallrohre abstützten. Von der Decke hingen einige Stalaktiten, aus dem Boden ragten einige Stalagmiten, vorwiegend jedoch handelte es sich um einen offenen Bereich. Heather hatte Distanzen noch nie gut abschätzen können, aber sie vermutete, dass die Höhle eine Länge von etwa fünf Metern und die dreifache Breite des Tunnels aufwies. Es gab keine anderen Ein- oder Ausgänge, nur ein kleines, unregelmäßiges Loch in der hinteren Wand. Die Öffnung wirkte kaum groß genug für einen Hund, geschweige denn für einen Menschen. Nachdem sie sich davon überzeugt hatte, dass sich niemand in der Kammer versteckte, rappelte sich Heather auf die nackten Füße, streckte die Gelenke und schaute sich ungläubig um.
Hier unten gab es Möbel, allesamt alt und in erbärmlichem Zustand. Entlang einer der Wände reihten sich vier Metallpritschen aneinander. Auf jeder türmten sich schimmlige Decken, zerlumpte Kleider und Zeitungspapier wie Nester. Die Stoffe wirkten so alt wie die Möbel, zumeist nur noch Fetzen. Ein Kartentisch lehnte schief an der gegenüberliegenden Wand. Darauf lagen vergilbtes Papier und ein paar klumpige, unförmige Keramikarbeiten, die aussahen, als habe sie ein Grundschüler angefertigt.
Heather bewegte sich weiter in die Kammer
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