Urbat - Der verlorene Bruder: Roman (German Edition)
würden es nicht so einfach wegstecken, wenn ihre Freundin von einem Klassenkameraden angegriffen würde, der dann so ohne Weiteres wieder freikommt. Vielleicht war der Kampf vor zwei Tagen ja bloß der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte.«
»Marsh!«, fauchte der Sheriff. Ford mochte Daniel wesentlich lieber als der Hilfssheriff und hatte eine Menge Respekt vor meinem Vater. Entweder das oder sie lieferten gerade eine richtig tolle Guter-Bulle-böser-Bulle-Vorstellung. »Es steht mir leider nicht frei, die Einzelheiten zuerörtern, aber wir haben Grund zu der Annahme, dass Tylers Tod im Zusammenhang mit dem Überfall auf den Day’s Market steht. Und da Sie sowohl eine Auseinandersetzung mit Tyler hatten als auch bei Day’s arbeiten, müssen wir Ihnen ein paar Fragen stellen. Wir können das hier oder auf der Wache machen.«
»Augenblick mal, beschuldigen Sie ihn jetzt etwa auch in der Supermarkt-Sache?«
»Wir beschuldigen niemanden. Wir ermitteln nur.«
Im meinem Bauch grollte die Wut. Pete und seine idiotischen Anschuldigungen brachten unser Leben ganz schön durcheinander. Wenn Ty und die Sache im Supermarkt zusammenhingen, hatte das wahrscheinlich weitaus mehr mit seiner Anwesenheit im Depot zu tun. Ah! Natürlich. Das Depot! Diese Spielertypen hätten Tyler doch am liebsten lebendig gehäutet, weil er ihr Spiel durcheinandergebracht hatte. Waren sie ihm vielleicht nach Hause gefolgt und hatten dann beschlossen, ihn zum Dank dafür fertigzumachen?
»Tyler hängt öfter in einem Club in der City rum … Er heißt Depot. Vielleicht sollten Sie …«
Daniel warf mir einen abschätzigen Blick zu.
Hilfssheriff Marshs dünne Augenbrauen schnellten in die Höhe. »Sie wissen also, wo sich Tyler letzte Nacht aufgehalten hat? Das ist ja interessant. Seine Freunde wollten ihn gestern in einem Club namens Depot treffen, aber als sie dort hinkamen, war er nicht da. Sind Sie beide ihm gefolgt?«
»Ähm … nein.« Mist. Alles was ich sagte, ließ Danielnur verdächtiger erscheinen. Wie konnte ich ihnen klarmachen, was ich im Club gesehen hatte, ohne zu erzählen, dass ich selbst dort gewesen war? Es würde bloß so klingen, als wäre ich Tyler gefolgt. »Ich habe nur gehört, dass es sich um einen gefährlichen Ort handelt. Und wenn Tyler dahin ist und irgendwelchen Leuten auf die Zehen getreten hat … möglicherweise hat er ja jemanden bei einem Videospiel gestört … dann sind sie vielleicht total sauer geworden und haben’s ihm heimgezahlt.«
»Sie glauben also, dass Tyler wegen eines Videospiels getötet wurde?«, fragte Hilfssheriff Marsh.
»Das wäre möglich«, erwiderte ich, klang dabei aber so, als glaubte ich selbst nicht daran. Ich hätte vielleicht einfach meine Klappe halten sollen.
»Wir werden das überprüfen«, sagte Ford. »Aber in der Zwischenzeit muss ich Sie, Daniel, fragen, wo sie letzte Nacht waren.«
Daniel verspannte sich. Ich konnte beinahe den Stress fühlen, der von seinem Körper abstrahlte. Bis zu diesem Moment hatte er so ruhig gewirkt. Ich sah ihn an und wartete auf seine Antwort.
»Ich war hier«, sagte er betont langsam, »und hab Fernsehen geguckt.«
»Zwischen zehn Uhr abends und ein Uhr morgens? Was haben Sie gesehen? Uhrzeit? Kanal? Irgendeine Werbung, an die sich erinnern können?«
»Hm …« Daniels Finger zuckten. Ich wollte seine Hand nehmen, um das nervöse Zucken abzuschwächen, bevor es die anderen bemerkten, doch das wäre sicher genausoauffällig gewesen. »Ich kann mich an nichts Besonderes erinnern.«
»Tatsächlich?«, fragte Hilfssheriff Marsh. »Überhaupt nichts?« Er stemmte die Hände in die Hüften und streckte seine Brust raus, so als wollte er Daniel im nächsten Moment packen und auf die Polizeiwache verfrachten. Das selbstzufriedene Grinsen auf seinem Gesicht wirkte, als hätte er es nur zu gern getan.
Daniel trat einen kleinen Schritt zurück; seine Finger zuckten immer noch. »Es tut mir leid. Ich kann mich wirklich nicht erinnern.«
Ich machte einen Schritt nach vorn. »Was er damit meint, ist, dass er abgelenkt war. Wir waren hier … zusammen. Der Fernseher lief, aber wir haben, nun Sie wissen schon, nicht wirklich hingesehen.« Obwohl ich nicht die Wahrheit sagte, wurde ich rot, hoffte dabei aber, dass sich meine Schamesröte mit den roten Flecken vermischte, die immer dann an meinem Hals auftraten, wenn ich log.
Daniel blickte mich an, als wäre er völlig überrascht von meinen schauspielerischen Fähigkeiten. Hoffentlich
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