Urbat - Der verlorene Bruder: Roman (German Edition)
war er mir auch dankbar.
»Ich war bis ungefähr zwei Uhr morgens hier. Daniel hat es einfach nicht erwähnt, weil … na ja … Sie werden’s doch nicht meinem Dad erzählen, oder?«, fragte ich und verdrehte die Hände. An dieser Stelle musste ich gar nicht mehr schauspielern. »Bitte?«
Sheriff Ford räusperte sich. »Sind Sie sicher, dass Sie die ganze Zeit mit ihm zusammen waren? Allein?«
Ich nickte.
»Nun, gut.« Ford stopfte sein Notizbuch in die Tasche. »Das ist alles, was ich wissen muss.«
Marsh ließ die Schultern hängen, behielt jedoch sein freches Grinsen bei. Er deutete auf den Seesack, der an Daniels Motorrad befestigt war. »Ich hoffe, Sie haben nicht vor, in nächster Zeit zu verreisen.«
»Nein, Sir«, erwiderte Daniel ruhig.
»Wir behalten Sie im Auge«, sagte der Hilfssheriff.
Daniel und ich standen nebeneinander und sahen zu, wie die beiden Polizeibeamten in ihren Wagen stiegen und losfuhren.
Auch nachdem sie weggefahren waren, zuckten Daniels Finger weiter. Ich griff nach seiner Hand, bevor er sich wegdrehen konnte. »Erzähl’s mir mal«, sagte ich. »Wo warst du gestern Abend?«
Nach sechzig Sekunden Schweigen
Je länger Daniel nichts sagte, desto mehr verspannten sich meine Muskeln. Ich konnte wieder den vertrauten Schmerz in mir spüren – so wie es immer war, wenn ich wusste, dass irgendetwas nicht stimmte. Es war dasselbe Gefühl, das in mir das Bedürfnis hervorrief, zu kämpfen oder zu laufen.
Daniel versuchte, seine Hand aus meinem Griff zu befreien. Ich hatte sie viel fester gehalten, als mir bewusst gewesen war. Seine Fingerspitzen waren hellrot.
Ich ließ seine Hand los und verspürte ein leichtesSchuldgefühl, als er seine Finger massierte und dann über den Verband an seinem Arm strich. Ich war sicher, dass ich den Schmerz der Wunde nur verschlimmert hatte. Doch das Schuldgefühl verwandelte sich in Wut.
Warum solltest du dich schuldig fühlen, wenn er im Unrecht ist?
, fragte eine fremde Stimme in meinem Kopf. Ich schüttelte mich und wusste nicht, wieso ich das überhaupt gedacht hatte. Es war nicht zu entschuldigen, wenn man jemandem Schmerzen zufügte.
»Warum willst du mir nicht sagen, wo du gestern Abend gewesen bist?«, fragte ich. »Das ist doch eine einfache Frage.«
Daniel kratzte sich hinterm Ohr und blickte in die uns umgebende Dämmerung. »Ich hab’s schon gesagt. Ich war hier. Hab Fernsehen geguckt.«
Er lügt
, sagte die fremde Stimme in meinem Kopf.
Seinetwegen hast du die Polizei belogen und er schwindelt dich nur weiter an.
Ich trat einen Schritt zurück. Wieso hörte ich eine Stimme in meinem Kopf, die nicht mal wie meine eigene klang? Allerdings hatte sie den Nagel auf den Kopf getroffen.
»Ich habe deinetwegen gerade die Polizei angelogen, Daniel. Denkst du nicht, dass du mir eine Antwort schuldest, die erklären könnte, warum ich das tun musste?«
»Ich habe dich nie gebeten zu lügen.« Daniel schob seine Hände in die Hosentaschen. Anscheinend wusste er nicht, was er mit seinen zuckenden Fingern anstellen sollte. »Ich schulde dir nichts.«
»Ach, nein?« Meine Stimme bebte vor Wut. »Nach allem,was wir durchgemacht haben?«
Nach allem, was du für ihn getan hast!
, sagte die Stimme. »Ich habe – buchstäblich – deine verdammte Seele gerettet und du bist nicht der Ansicht, dass du mir erklären müsstest, wo du gestern Abend gewesen bist? Was zum Teufel hast du getan?«
»Das habe ich nicht gemeint.« Daniel ließ die Schultern hängen und blickte zum Himmel auf. »Ich … kann einfach nicht.«
»Kannst was nicht? Es mir erzählen? Mir vertrauen?«, schrie ich ihn praktisch an. Fast konnte ich die Lautstärke meiner Stimme nicht mehr kontrollieren.
»Bitte, Gracie. Hab einfach nur Geduld mit mir. Ich will, dass du dich da raushältst. Gib mir etwas Luft zum Atmen.«
»Luft zum Atmen?« Ein Feuer brannte unter meiner Haut. Ich zitterte vor Wut und anschwellender Kraft. Irgendetwas war total verkehrt. Ganz entschieden verkehrt.
Kämpfen oder Fliehen
, flüsterte diese Stimme in meinem Kopf. Doch ein kleiner, vernünftiger Teil meines Hirns wollte nicht auf Daniel losgehen. Also tat ich, was mir jetzt wie meine zweite Natur vorkam. »Nimm dir alle Luft, die du brauchst«, sagte ich und rannte los.
»Gracie, warte!«, rief Daniel, als ich durch die Einfahrt fegte. »Verdammt, so hab ich’s doch gar nicht gemeint.«
Doch ich lief weiter, selbst dann noch, als ich das Dröhnen von Daniels Motorrad hinter mir hörte. Ich
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