Urbat - Der verlorene Bruder: Roman (German Edition)
stieß einen Seufzer aus. Es fühlte sich toll an, jemandem die Wahrheit zu sagen, der sie auch tatsächlich verstand.
Talbot nickte. »Wer ist denn dieser Freund, von dem du dauernd redest? Klingt, als ob dein Bruder ihn genauso wenig mag wie ich.«
Ich legte meinen Kopf schief und blickte Talbot an. Was hatte er damit gemeint?
»Tut mir leid.« Talbot warf mir ein Lächeln zu. »Ich dachte nur, dass dieser Freund ja echt was Besonderes sein muss, um ein Mädchen wie dich zu verdienen. Aber was hat er denn getan, um deinen Bruder so zu verärgern?«
»Oh, Daniel… mein Freund …« Argh. Es schien fast so, als ob diese Unterhaltung nicht mal für zehn Sekunden weitergehen konnte, ohne dass einer von uns das F-Wort benutzte. Daniel und ich mochten es nicht einmal, von Freund und Freundin zu sprechen. Es klang viel zu banal, wenn man berücksichtigte, was wir füreinander empfanden. »Daniel, mein Freu…« Ich räusperte mich. »Er war ein Werwolf. Er hat meinen Bruder vor ein paar Jahren infiziert. Mein Bruder hasst ihn jetzt abgrundtief.«
Talbot warf mir einen fragenden, wenngleich amüsierten Blick zu. Dann schüttelte er den Kopf. »Was meinst du damit, dass Daniel ein Werwolf
war
? Ich hatte immer den Eindruck, dass der Urbat-Zustand nichts Vorübergehendes ist.«
»Ich habe ihn geheilt.«
Talbot riss die Augen auf. Kurz bevor er eine rote Ampel überfuhr, rammte er den Fuß auf die Bremse. »Wie hast du das gemacht?«
Unglücklicherweise war ich viel zu müde, um die ganze Geschichte zu erzählen. »Der wahren Liebe erstes Töten«, ich ließ meine Hand in der Luft kreisen, »und so weiter und so fort … Es ist wirklich keine passende Geschichte für heute.«
Talbot kniff die Augen zusammen. Er lachte kurz auf und blickte mir dann ins Gesicht. »Ich glaube, Miss Grace Divine, Sie werden von Minute zu Minute interessanter.«
Als er die Worte ›Miss Grace‹ aussprach, jagte der Tonseiner Stimme mir einen weiteren Schub der warmen Vertrautheit durch den Körper. Was hatte er bloß an sich?
Die Ampel wurde grün und wir fuhren über die Kreuzung. Ich drehte meinen Kopf zur Seite und sah aus dem Beifahrerfenster. »Jetzt bist du an der Reihe. Ich vermute mal, dass du das häufig machst – Dämonen aufspüren und Gangs mit übersinnlichen Fähigkeiten ausforschen. Ist dieser Barmherziger-Samariter-Job nur Fassade für deine Superhelden-Bürgerwehr-Mission?«
»Schuldig im Sinne der Anklage«, sagte er.
»Im Ernst?«
»Ich hab mich infiziert, als meine Eltern von Werwölfen getötet wurden. Hab mir geschworen, meine Kräfte einzusetzen, um die Menschheit vor den Dämonen zu beschützen und so weiter und so fort. Es ist wirklich keine passende Geschichte für heute.«
»Oh, bitte, das kannst du doch nicht machen.«
»Kann ich wohl, weil wir nämlich da sind.« Ich blickte seinem zeigenden Finger hinterher und entdeckte den hell erleuchteten Bus vor dem Freizeitzentrum. Die anderen Schüler saßen schon darin. Direktor Conway stand draußen und hielt sein Handy ans Ohr gepresst.
»Ich muss wohl los«, sagte ich. »Danke für das … äh … Abenteuer?«
»Ich bin froh, dass du dabei warst.« Talbot grinste mich an, ganz Wärme und Grübchen. »Ich bin überhaupt ziemlich froh, dass ich dich als Partnerin hatte. Ich weiß nicht, was ich getan hätte, wenn jemand anderer von deinerSchule heute mit mir unterwegs gewesen wäre. Hat doch irgendwie was Schicksalhaftes, findest du nicht?«
Ich lächelte. »Ja, sieht so aus.« Ich bediente den Türöffner und schob die Tür auf.
Gerade als ich hinausspringen wollte, sagte Talbot: »Grace?«
»Ja?« Ich drehte mich zu ihm um.
Er hielt etwas silbrig Glänzendes in der Hand. Erst dachte ich, er wolle mir ein Geschenk geben, was irgendwie seltsam, aber auch süß gewesen wäre. Doch dann sagte er: »Aprils Armband.«
»Oh.« Ich nahm das Armband aus seinen warmen Fingern. Ein winziger Papierstreifen war darumgewickelt. Ich blickte in Talbots funkelnde grüne Augen.
»Das ist für dich«, erklärte er. »Ruf mich an, wenn du irgendwas brauchst. Egal was.«
»In Ordnung.« Ich kletterte aus dem Van.
»Grüß April von mir«, sagte Talbot, bevor ich die Tür schloss.
Ich schob den Papierstreifen in meine Tasche und trottete durch die Dunkelheit auf den Bus zu. Ich fragte mich gerade, wie ich meine Verspätung am besten erklären könnte, als plötzlich direkt neben mir jemand auftauchte.
»Mann, du hast ganz schön lange gebraucht, um wieder
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