Urbat - Der verlorene Bruder: Roman (German Edition)
glaubten, Daniel und ich ›machten rum‹. Aber das war definitiv nicht der Fall. Es war nicht so, dass wir nicht daran gedacht oder es nicht gewollt hätten – allein Daniels Anblick ließ mein Herz normalerweise schneller schlagen und meine Glieder vor sehnsuchtsvoller Erwartung kribbeln.
Es war nur so, dass Sex für mich eine ziemlich große Sache war.
An der HTA kursierte der Witz, dass, wenn mein Vater ersatzweise eine der Klassen in Religion unterrichtete, er zweifellos eine geschlagene Stunde über Keuschheit reden würde. Und ich kann euch sagen: Eine Unterrichtsstunde zu überstehen, in der dein Vater deinen ganzenSchulfreunden etwas über sexuelle Abstinenz erzählt, ist ganz sicher nicht der Hit. Obwohl ich bei dem Gequatsche meines Vaters am liebsten immer den Kopf auf die Tischplatte gehämmert hätte, konnte ich doch nicht anders, als ihm zu glauben, wenn er davon sprach, dass es besser war, bis zur Eheschließung abzuwarten. Es schien einfach zum ganzen Paket dazuzugehören, versteht ihr? Denn wenn ich an Jesus glaubte, an die Gleichnisse, die er verkündete, und daran, dass es richtig war, einem Menschen zu vergeben, dann musste das, was die Bibel über das Besondere und Sakrale des Sex sagte, ebenfalls wahr sein.
So sehr ich es auch wollte – und ganz klar Daniel derjenige war, mit dem ich es wollte –, so wollte ich doch warten. Auch wenn es eine der schwersten Entscheidungen war, die ich je zu treffen hatte.
Ich hatte mich natürlich gefragt, ob meine Entscheidung ein Problem für Daniel sein könnte. Wir hatten während der drei Jahre seiner Abwesenheit sehr verschiedene Leben geführt, und er hatte mehr als einmal mit einem Mädchen geschlafen, das war klar. Doch eines der Dinge, die ich an Daniel liebte, war, dass er völliges Verständnis hatte.
»Du bist anders als diese anderen Mädchen«, hatte Daniel mir einmal gesagt. »Wir sind verschieden. Ich liebe dich. Und ich möchte, dass es bei uns stimmt.«
Angesichts der ganzen Lügen, Kämpfe und Geheimnisse, die sich plötzlich zwischen Daniel und mir abspielten, kam es mir im Moment allerdings fast vor, als stimmte gar nichts mehr bei uns.
»Also, wirst du’s ihm erzählen?«, riss April mich aus meinen Gedanken.
»Wem soll ich was erzählen?«
»Wirst du Daniel von dir und Talbot erzählen?«
»Ich hab dir doch gesagt: Es gibt kein Talbot und ich.«
»Könnte aber«, trällerte sie.
»Ich werde dir kein Sterbenswort mehr verraten.«
»Ach, komm schon, du weißt, dass ich dich nur ärgern will. Ich wollte wissen, ob du Daniel sagen wirst, dass Talbot dein Fahrer war. Er wird doch total eifersüchtig sein, weil er mit Katie Summers bei Day’s eine Bestandsaufnahme machen muss, anstatt Seite an Seite mit dir das Böse in der City zu bekämpfen.«
Ich hatte April vielleicht in letzter Zeit viel zu viel erzählt, doch ich hatte ihr bisher noch nicht den Grund genannt, aus dem ich Daniel den ganzen Tag aus dem Weg gegangen war. So weit sie informiert war, wollte Daniel mich mit Nachdruck trainieren, damit ich eine Superheldin werden konnte. Sie wusste nicht, dass er mir den Rücken zugekehrt und den Plan abgelehnt hatte, der ursprünglich seine Idee gewesen war.
»Ja, ich glaube, ich werd’s ihm erzählen.«
Mein Körper kribbelte hoffnungsvoll angesichts einer neuen Idee: Wenn Daniel erst mal hörte, wie ich diesen Typen in der City erledigt hatte, würde er kapieren, dass ich da draußen auch gut auf mich selbst aufpassen konnte. Er würde Gabriels Ansicht nicht länger teilen. Wenn er erführe, wie ich geholfen hatte, diese Frau zu retten, musste er einfach wieder an mich glauben.
Und dann würde er mir vielleicht sagen, welches Geheimnis er vor mir verbarg.
Zurück in der Schule
Ich musste nicht lange warten, bevor ich Daniel wiedertraf. Er hing am Schulparkplatz herum, als ich aus dem Bus stieg. Er hatte sich gegen die Sitzbank seines rotschwarzen Motorrads gelehnt, seine Hände steckten in den Taschen seiner Kapuzenjacke.
»Ich muss los«, sagte ich zu April und sprang über den mehr oder weniger leeren Parkplatz auf Daniel zu. Ich wollte gerade meine Arme um seinen Hals schlingen und ihm alles erzählen, was in der Gasse mit den Gelals und Talbot passiert war, als ich den versteinerten Ausdruck auf seinem Gesicht sah.
Er erinnerte mich an Jude. Vollkommen stoisch und kalt.
»Hey«, sagte ich und verkniff mir die Umarmung. »Was machst du hier?«
»Dein Dad wollte sichergehen, dass ich dich nach Hause bringe.
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