Urbat - Der verlorene Bruder: Roman (German Edition)
Jahrhunderte, die wir dort leben, schon manchmal ein paar unglückliche Wanderer auf unser Land verirrt. Aber wir leben sehr zurückgezogen. Vor etwas weniger als zwanzig Jahren gab es gleichwohl eine Gruppe relativ junger Urbats in unserem Rudel, die nicht verstanden, was Sirhan und ich ihnen beizubringen versuchten. Sie gehörten zu einer neuen Generation, die sich an den Geschichten über Ulrich und das Biest von Gevaudan ergötzten. Sie waren der Ansicht, das Rudel solle an das anknüpfen, was sie als das ›Goldene Zeitalter der Werwölfe‹ ansahen. Einer von ihnen wollte der neue Alpha werden. Daraufhin griffen sie Sirhan an, töteten dabei seine Gefährtin Rachel und trugen ihren Blutrausch in die nächstgelegene Stadt, wo sie mindestens fünf Familien überfielen.«
In meinem Kopf tauchte das Bild eines dreijährigen Jungen auf, der mit ansehen musste, wie seine Eltern getötetwurden. »Und du hast nichts unternommen, um sie aufzuhalten?«
»Es gab nichts, was ich hätte tun können.« Gabriel ließ seine Schultern hängen und rieb wieder über die helle Hautfläche an seinem Finger. »Als ich das erste Mal zu einem Werwolf wurde, geriet ich in meiner eigenen Stadt selbst in einen Blutrausch – bis ich meine Schwester tötete, Katherine. Als ich wieder zu Sinnen kam und mir klar wurde, was ich getan hatte, schwor ich jeder Form von Gewalt ab. Seit jener Zeit habe ich niemanden mehr verletzt. Egal, was auch passiert, ich erhebe meine Hand nicht.«
»Dann hast du dich also einfach abgewandt und die abtrünnigen Wölfe diese Familien umbringen lassen?«
»Sirhan ließ sie verfolgen. Sie wurden gefangen genommen und angeklagt, das ganze Rudel gefährdet zu haben. Ihr Anführer wurde verbannt, weil er für Rachels Tod verantwortlich war und versucht hatte, Sirhan die Alpha-Position zu entreißen.«
»Verbannt? Warum nicht getötet? Wo ist er hingegangen?«
Gabriel schürzte die Lippen und legte das geöffnete Buch auf den Schreibtisch. »Sirhan hat ihn aus dem Territorium verjagt. Eine Weile irrte er herum. Dann entschied er sich, sein eigenes Rudel zu gründen, indem er eine menschliche Frau heiratete und ein Kind mit ihr zeugte. Schließlich fing er wieder an zu töten. Ich glaube, du kennst ihn unter dem Namen Markham Street Monster.«
Ich rang nach Atem. »Mr. Kalbi? Daniels Vater?« Ichsuchte in meiner Erinnerung nach seinem Vornamen. Daniel hatte ihn nie erwähnt.
»Caleb Kalbi«, sagte Gabriel. »Ja.«
Jetzt begriff ich endlich, wieso Sirhan sich im letzten Jahr geweigert hatte, Calebs Sohn in das Rudel aufzunehmen. Wieso er ihn zu hassen schien, ohne dass Daniel etwas dafür konnte.
»Ich bin nur froh, dass Caleb kein wahrer Alpha ist, denn sonst sähe diese Welt ganz anders aus. Wenn er nur ein paar weitere Mitglieder des Rudels davon überzeugt hätte, dass er der Anführer sein sollte …« Gabriel schüttelte den Kopf. »Caleb hat schon als Markham Street Monster genügend Unheil angerichtet. Stell dir vor, was passiert wäre, wenn er ein ganzes Rudel befohlen hätte. Es wäre so wie mit dem Biest von Gevaudan geworden. Wahrscheinlich noch schlimmer.«
Ich schauderte bei diesem Gedanken. Caleb hatte mindestens zwei Dutzend Menschen ganz allein getötet, bevor er die Stadt verließ. Ich mochte mir kaum vorstellen, wie es gewesen wäre, wenn er ein ganzes Rudel unter seiner Kontrolle gehabt hätte. »Was meinst du eigentlich, wenn du vom
wahren Alpha
sprichst?«, fragte ich Gabriel. »Du hast Sirhan vorhin so bezeichnet.« Vor lauter Informationen drehte sich mir langsam der Kopf, aber ich wusste nicht, wann ich je wieder die Gelegenheit haben würde, Gabriel solche Fragen zu stellen.
»Wahre Alphas sind überaus selten. Es sind Urbats, die mit einem gewissen mystischen Wesenszug geboren werden, der sich in ihnen entwickelt, wenn sie älter werden.Sie sind die wahren ›erwählten‹ Rudelführer. Wenn ein wahrer Alpha der Alpha eines Rudels werden will, erkennen ihn die anderen für gewöhnlich an. Ich weiß nicht genau, warum das so ist. Vielleicht geht es um irgendein magisches Phänomen oder vielleicht auch nur um Pheromone. Es hat immer nur sehr wenige wahre Alphas gegeben. Heute sind sie seltener als je zuvor – vielleicht weil sich die Urbats nicht oft vermehren. Die meisten Rudel leben unter der Führung eines gewöhnlichen gewählten Alphas. Sirhan ist der letzte wahre Alpha, von dem ich Kenntnis habe. Ich dachte irgendwann mal, dass es einen anderen gäbe, aber jetzt nicht mehr.
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