Urbat - Der verlorene Bruder: Roman (German Edition)
Und nun, da Sirhan auf dem Totenbett liegt …«
»Sirhan liegt im Sterben? Hat noch mal jemand versucht, ihn zu töten?«
»Er stirbt an Altersschwäche, könnte man wohl sagen. Sirhan verfiel vor neunhundertneunundneunzig Jahren dem Fluch des Werwolfs. Jetzt spürt er langsam sein Alter. Er ist sehr krank. Kein Werwolf hat jemals länger als tausend Jahre gelebt. Ich glaube, mittlerweile ist es nur noch eine Frage von Wochen.«
»Was wird sein, wenn Sirhan stirbt?« Ich erinnerte mich, wie Talbot davon gesprochen hatte, dass Gabriel verdiente, was mit dem Rudel geschehen würde, wenn Sirhan starb.
»Gemäß den Regeln des Rudels wird ein neuer Alpha berufen, wenn der alte stirbt. Wenn es keinen wahren Alpha gibt, geht die Berufung des Alphas auf den Beta über. In diesem Fall wäre ich das. Bevor ein Beta jedoch das Rudel übernehmen kann, muss er eine so genannte›Zeremonie der Herausforderung‹ abhalten, bei der jeder beliebige Wolf den Beta herausfordern darf. Dann kann der Beta entweder abtreten und der Herausforderer wird zum Alpha oder die beiden kämpfen, bis einer nachgibt – oder stirbt. Der Sieger wird dann zum Alpha bestimmt, auch wenn er ein Außenseiter oder bereits der Alpha eines anderen Rudels ist. Wenn es mehr als einen Herausforderer bei dieser Zeremonie gibt – in seltenen Fällen gibt es auch mal eine Herausforderin –, müssen alle die Position untereinander ausfechten. Das kann dann zu einer ziemlich tödlichen Angelegenheit werden.«
»Ich nehme an, du trittst ab, falls dich jemand herausfordert?«
Gabriel seufzte. »Normalerweise wird der Beta allein aus Respekt nicht herausgefordert«, erwiderte er murmelnd.
»Doch was geschieht, wenn jemand wie Caleb dich fordert?«
Gabriel kniff die Augen zusammen.
»Dann würdest du doch kämpfen, oder?« Es war mehr Wut in meiner Stimme, als ich erwartet hatte.
Oder ist er bloß ein Feigling?
, knurrte die Stimme in meinem Kopf.
Gabriel antwortete nicht. Er klopfte nur mit den Fingern auf die aufgeschlagene Buchseite.
»Worüber redet ihr beiden?«, fragte Charity. Sie stand in der Türöffnung und balancierte einen großen Karton mit der Aufschrift HALLOWEEN #3 auf den Armen.
Gabriel sprang von seinem Stuhl auf. »Lass mich das nehmen«, sagte er und streckte ihr die Hände entgegen.
»Danke.« Sie reichte ihm den Karton. »Mom hat noch fünf weitere von der Sorte. Tut mir leid, dass es so lange gedauert hat. Mom ließ uns erst den ganzen Lagerraum umräumen, bevor wir was rausnehmen konnten.«
Mom rief von der Kellertreppe nach Charity. Meine Schwester zog den Kopf ein und lief zurück in den Flur.
Gabriel wandte sich wieder mir zu. »Wir werden sehen, was geschieht, wenn die Zeit gekommen ist. Aber du solltest dir wegen Caleb Kalbi keine Sorgen machen, Grace. Er ist nur ein jämmerlicher Abklatsch eines Wolfs – oder eines Mannes. Ich bezweifle, dass er es wagt, allein in der Nähe unseres Rudels aufzutauchen.« Gabriel schleppte den Karton aus dem Arbeitszimmer und sagte etwas zu meinem Vater, der sich anscheinend in der Küche aufhielt.
Ich seufzte und ließ den Kopf auf den Schreibtisch sinken. Er fühlte sich vor lauter Informationen schon ganz schwer an. Nun musste ich mich neben meiner Besorgnis über Daniel und meinem Bemühen, Jude zu finden, mit einer völlig neuen Art von Beunruhigung auseinandersetzen. Ich blickte auf das Buch und betrachtete die Zeichnung des Biests von Gevaudan. Langer Hals, scharfe Klauen, bluttriefende Zähne. Das Bild zeigte außerdem eine am Boden liegende Frau, die vergeblich versuchte, das Biest mit einem langen Speer abzuwehren. Obwohl es jetzt zu spät war, um Gabriel zu fragen, schoss mir eine weitere Frage durch den Kopf.
Was würde geschehen, wenn Caleb Kalbi bei der Herausforderungszeremonie erschien – und dabei nicht allein war?
KAPITEL 17
Grundtraining
Mittwochnachmittag
Ich wusste, dass Gabriels Geschichten mich von dem Wunsch, meine Fähigkeiten zu entwickeln, abbringen sollten. Sie ließen mich jedoch umso entschiedener werden. Dort draußen gab es viele Gefahren – Gefahr in Gestalt von Caleb Kalbi (auch wenn er sich, gemäß Daniel, derzeit in Südamerika aufhielt) oder der Shadow Kings, die, aus welchen Gründen auch immer, beabsichtigten, die Stadt zu zerstören. Und ich musste bereit sein, mich ihnen zu stellen, wenn Leute wie Gabriel sich einfach nur zurücklehnen und tatenlos zusehen wollten. Ich konnte kaum abwarten, dass der Schultag endlich vorbeiging und
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