Urbat - Der verlorene Bruder: Roman (German Edition)
Schulklamotten nichts abkriegen.«
Als ich die Toilette betrat, befühlte ich den Stoff. Ich verschloss die Tür und zog Shirt und Hose aus. Schnell streifte ich den Gi über, da es mir komisch vorkam, in BH und Unterwäsche dazustehen und dabei nur durch eine dünne Wand von Talbot getrennt zu sein. Was, wenn er plötzlich in der Türöffnung stünde?
Als ich aus der Toilette tapste, wartete Talbot bereits auf mich. Er hatte seinen eigenen weißen Gi angezogen und ihn mit einem schwarzen Gürtel zugebunden. Dieverschränkten Zipfel des weißen Oberteils bedeckten seine ansonsten nackte Brust. Seine Brustmuskeln waren genauso ausgeprägt wie seine Unterarme. Ich blickte auf seine nackten Füße, die aus den Enden der leichten weißen Hose hervorlugten. Wieso kam mir die ganze Situation weitaus unwirklicher vor als alles, was wir bisher getan hatten?
»Aha, du bist also Mr. Miyagi, und ich bin Karate Kid«, stellte ich fest.
»Ich bin Mr. Wer?«, fragte Talbot.
»Kennst du Mr. Miyagi nicht? Aus dem Film? Der versucht doch immer, Fliegen mit Essstäbchen zu fangen.«
Talbot starrte mich verständnislos an.
»Na, du musst es so machen wie er: ›Wischen und Polieren!‹« Ich machte die charakteristische Geste, die mit dem Anfeuerungsruf im Film einherging.
Talbots Augen wurden größer. Anscheinend kapierte er gar nichts.
Ich gab einen theatralischen Seufzer von mir. Wahrscheinlich hatten Kinder, die mit pensionierten Dämonenjägern auf einer Farm aufwuchsen, nicht allzu viele Filme aus den Achtzigern gesehen. »Du bist der große Karate-Meister und ich bin deine Schülerin.«
»Ähm, okay.« Er sah mich immer noch erstaunt an. »Aber ich werde dir gar kein Karate beibringen. Ich schwanke noch zwischen Aikido und Wing Chun. Beides ist gut für Kämpfer, die nicht so groß sind. Außerdem brauchst du Schwertkampftraining. Danach beschäftigen wir uns mit Armbrüsten und Stabkampftechnik. Unddann gibt’s vielleicht noch ein paar von diesen Verbeugungsübungen.«
Dieses Mal machte ich ein erstauntes Gesicht – allerdings nicht, weil er scherzte. Er meinte es todernst.
Sonntagnachmittag, vier Tage später
Das Training mit Talbot war intensiv gewesen – bescheiden ausgedrückt. Er hielt sich nicht zurück, brauchte keine Atempause und war ständig auf den Beinen. Was bedeutete, dass ich wie eine Wahnsinnige rackern musste, um mithalten zu können. Ich weiß nicht, wie es dazu gekommen war, aber ich hatte mir durch das Training mit Talbot in weniger als einer Woche mehr Fähigkeiten angeeignet als in den ganzen Monaten, die ich mit Daniel trainiert hatte.
Vielleicht lag es daran, dass Talbot mir nicht vorschrieb, mich zurückzuhalten, sondern forderte, dass ich weiter vorpreschte. Er wollte, dass ich mich von meinen rohen Gefühlen antreiben ließ und sie benutzte, um meine Kräfte zu stärken. Ich konnte kaum glauben, wie schnell das funktioniert hatte – wie viel stärker ich geworden war.
Unsere Trainingsstunden wirkten wie eine Droge auf mich. Meine Kräfte vollkommen zu beherrschen war überwältigend; es verschlang mich, ließ mich vor Kraft strotzen und ich wollte immer mehr. April warf mir immer komische Blicke zu, wenn ich zum Bus zurückkam, und wollte wissen, was für ein Training Talbot und ich da absolvierten.Sie verstand nicht, was mich an diesem Kampftraining so reizte.
Ich hatte sogar darüber nachgedacht, Talbot für eine zusätzliche Trainingsstunde am Samstag zu treffen. Doch seitdem Gabriel zum Abendessen bei uns gewesen war, befand sich Mom in einer manischen Phase und hatte sich mittlerweile über die Spendenaktion informiert. Eben jene Spendenaktion, bei der sie das Kommando über die Verkaufsstände übernehmen würde. Nun verwandte sie jeden wachen Augenblick auf die Vorbereitung des Straßenfests. Den ganzen Samstag lang wollte sie für die Besucher Myriaden von Pekannusstörtchen backen und einfrieren, und natürlich gab es für uns kein Entkommen. Bis Halloween waren es nur noch sechs Tage. Wenn ich jeden Nachmittag der darauffolgenden Woche für mein Sozialprojekt aufwenden musste, wäre ich wahrscheinlich gar nicht mehr aus dem Haus gekommen, um noch mal mit Talbot zu trainieren.
Am Sonntagnachmittag litt ich wegen des ausgebliebenen Trainings schon derart unter Entzugserscheinungen, dass ich kaum noch klar denken konnte. Das allerdings war überhaupt nicht gut, denn ich war nach dem Gottesdienst mit Daniel zu einem Picknick auf dem Rasen vor der Pfarrkirche verabredet.
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