Urbat - Der verlorene Bruder: Roman (German Edition)
Nachdem Dad darauf bestanden hatte, war Mom bereit gewesen, mir eine zweistündige Pause zu gewähren, damit ich mit Daniel die Bewerbung für Trenton vorbereiten konnte. Ich befürchtete allerdings, dass Daniel die Veränderung an mir wahrnehmen könnte.
Je besser das Training mit Talbot lief, desto schwieriger schien es mit Daniel zu werden. Desto schwieriger war es für mich, in seiner Gegenwart so zu tun, als wäre ich völlig normal.
Ich mochte es überhaupt nicht, Daniel irgendwelche Dinge zu verheimlichen. Es war schrecklich, dass ich ihm nichts von Talbot, meinen Trainingsstunden oder auch meinem Plan, Jude zu finden, erzählen konnte. Aber so musste es eben sein, denn sonst – dessen war ich mir sicher – hätte er versucht mich aufzuhalten.
Daniel wollte, dass ich ganz normal war. Doch das konnte ich nicht. Das hatte nichts mehr mit mir selbst zu tun. Ich hatte diese Talente, diese Fähigkeiten. Ich wusste, was an Bösem in dieser Welt existierte, und ich konnte nicht länger untätig zusehen. Wahrscheinlich mussten die Helden in diesen ganzen Comicbüchern deswegen ein Alter Ego erschaffen – ein anderes Ich, das vorgab ganz normal zu sein, sodass sie trotz aller Heldentaten mit ihren Lieben zusammensein konnten.
Daniel wollte, dass ich normal war, weil er mich beschützen wollte. Doch er wusste nicht, wozu ich tatsächlich fähig war. Irgendwie und irgendwann hatte er den Glauben an mich verloren. Den Glauben an die Idee, dass ich ein Hund des Himmels sein könnte. Ich würde es ihm zeigen, ich würde ihm beweisen, dass ich es konnte. Wenn die Zeit käme – wahrscheinlich nicht vor Beendigung meines Trainings mit Talbot und möglicherweise erst, nachdem ich Jude nach Hause gebracht hätte –, würde ich Daniel alles erzählen. Endlich.
Also war das, was ich tat, doch eher eine Überraschung. Ich verbarg eigentlich keine Geheimnisse vor dem Menschen, den ich am meisten liebte.
Oder?
Sosehr ich mich fürchtete, für ein paar Stunden als ›Grace Divine: die einhundertprozentig normale Pastorentochter‹ aufzutreten, sosehr sehnte ich mich dennoch nach Daniel. Es war toll, dass er das Picknick vorgeschlagen hatte. Somit war es mir egal, dass ich mich vielleicht ein bisschen unbehaglich fühlen würde. Da Mom mir genügend Arbeit aufdrückte, wenn ich nicht mit Talbot zusammen war, und Daniel Extraschichten für Mr. Day einlegte sowie Katie Summer bei der Leitung der Spendenaktion half, kam es mir wie eine Ewigkeit vor, seit wir außerhalb der Schule zuletzt Zeit füreinander gefunden hatten. Oder eigentlich auch
in
der Schule, wenn man bedachte, dass er die meisten Mittagspausen mit Katie bei der Planung von Verkaufsständen und Plakaten verbrachte. Und obwohl ich sehr nervös war – so als müsste ich mich von meinen Kräften entwöhnen –, sollte mich an diesem Tag nichts davon abhalten, mit Daniel zu Mittag zu essen.
Außer der Tatsache, dass Daniel sich anscheinend anders entschieden hatte.
In meinem knielangen blauen Kleid saß ich mehr als fünfundvierzig Minuten im Gras und genoss die für die Jahreszeit ungewöhnlich warme Oktobersonne, bevor ich endgültig davon überzeugt war, dass er unser Picknick vergessen hatte. Das Picknick, das er vorgeschlagen hatte.Daniel hatte nicht am Gottesdienst teilgenommen, doch seine Kirchenbesuche waren ohnehin eher unregelmäßig, sodass ich mir keine Gedanken darüber gemacht hatte.
Mir knurrte der Magen. Ich hatte mein Handy nicht dabei (Mom hatte mir verboten, es mit in die Kirche zu nehmen), also lief ich in die Kirche, um Daniel vom Bürotelefon meines Vaters anzurufen. Dad war nicht da, doch die Tür war unverschlossen. Ich ging ins Büro und wählte Daniels Nummer. Der Apparat schaltete sofort auf die Voice Mail.
»Was du da treibst, ist hoffentlich wichtig genug, um mich hier sitzen zu lassen«, erzählte ich dem Anrufbeantworter. »Ruf mich auf dem Handy zurück, wenn du noch weißt, wer ich bin.«
Ich legte auf, wollte aber sogleich noch mal anrufen, um mich zu entschuldigen. Ich hasste mich selbst, weil ich so kurz angebunden gewesen war. Doch andererseits – sollte nicht die Superheldin diejenige sein, die in letzter Minute Verabredungen vergaß oder während wichtiger Abendessen davoneilte? Wenn hier irgendwer jemanden sitzen ließ, sollte das wohl ich sein.
Ich nahm meine Bewerbungsunterlagen für Trenton vom Schreibtisch und lief in den Flur. Meine Muskeln zuckten, und ich wäre nur zu gern zu einem langen Lauf losgesprintet,
Weitere Kostenlose Bücher