Urbat - Der verlorene Bruder: Roman (German Edition)
Schuhe mit hohen Absätzen hin oder her.
Als ich an der Doppeltür zum Gemeindesaal vorbeikam, hörte ich plötzlich seltsame Geräusche nach außen dringen. So etwas wie lange, schwerfällige Atemzüge und gelegentliches Knurren. Meine Neugier war geweckt. AlleGemeindemitglieder sollten mittlerweile die Kirche verlassen haben. Ich öffnete die Tür und sah in den Saal.
Auf Zehenspitzen stand Gabriel mitten im Raum und hatte die Hände weit über den Kopf in die Höhe gestreckt. Seine Handflächen waren einander zugewandt. Er trug ein graues Leinenoberteil und passende Hosen, ähnlich den Gis, die Talbot und ich zum Training trugen, sowie ein langes braunes Gewand. Er sah aus wie eine Kreuzung aus Mönch und Jedi-Ritter.
Ich beobachtete, wie er mit äußerst fließenden Bewegungen die Arme sinken ließ und sie dann parallel vor seine Brust hielt. Seine Hände waren leicht nach unten gebogen, als hielte er einen unsichtbaren Ball. Sein Kopf drehte sich in meine Richtung. Als er mich sah, zwinkerte er mir zu, sagte aber nichts und setzte die fließenden Bewegungen fort. Sie erinnerten mich an die Kampfkunst, die Talbot mir gezeigt hatte, waren jedoch gleichzeitig völlig anders. Er machte noch drei weitere Bewegungen, die alle ineinander verschmolzen wie bei einer Übungseinheit. Als er die letzte Bewegung vollführt hatte, drehte er sich wieder zu mir und verbeugte sich leicht.
»Hallo Grace«, sagte er und machte mir ein Zeichen einzutreten. »Verzeih bitte, dass ich diesen Raum hier benutze, doch ich fürchte, mein Zimmer ist zu klein für meine Übungen.«
»Ich dachte, du hättest fürs Kämpfen nichts übrig«, sagte ich. »Wieso praktizierst du dann Kampfkunst?«
»Ich übe nicht für das Kämpfen. Das hier gilt meinem inneren Gleichgewicht und der Meditation.« Er rieb wiederüber die hellere Hautstelle an seinem Finger. »So etwas kann ich momentan viel besser gebrauchen.«
»Sagst du das, weil dir der Ring fehlt?« Ich zeigte auf seine Hand. Es schien offensichtlich, dass er an dem Finger lange Jahre einen Ring getragen haben musste.
Gabriel nickte mir anerkennend zu, so als freute er sich über meine schnelle Auffassungsgabe.
»Was ist mit ihm geschehen?«, fragte ich. Ich war überrascht, dass er ohne einen Mondstein hierhergekommen war. Für einen Menschen, dem nichts über völlige Selbstkontrolle ging, schien das ein großes Risiko zu sein.
»Ich gab ihn jemandem, der ihn mehr brauchte als ich.« Er hörte auf, die helle Hautstelle zu reiben und ließ die Hände sinken. »Ich will nur hoffen, dass es kein vergeudetes Opfer war.«
»Jude?« Plötzlich erinnerte ich mich, dass Gabriel nicht zum ersten Mal nach Rose Crest gekommen war. Ich war ihm nicht begegnet, aber er war am Weihnachtsabend hier gewesen und hatte meinem Dad einen Mondsteinring für Jude gegeben – offenbar seinen eigenen Ring. »Das hast du für ihn getan? Aber du bist uns doch nie zuvor begegnet.«
Gabriel nickte, dieses Mal etwas feierlicher. »Daniel hat oft von dir und deiner Familie gesprochen. Es kam mir vor, als würde ich euch alle kennen. Ich hatte das Gefühl, dass du wie meine Schwester Katherine warst. Und Jude erinnerte mich an mich selbst, damals zu der Zeit, bevor ich Geistlicher wurde und zu den Kreuzzügen aufbrach. Als ich den Brief deines Vaters erhielt und von Judes Infizierung erfuhr, hat Sirhan mir verboten, mich einzumischen.Aber ich konnte nicht anders. Ich wollte deinen Bruder davor bewahren, dasselbe Schicksal wie ich zu erleiden. Ich fürchte, dass ich wie immer zu spät gekommen bin.« Er legte mir eine Hand auf die Schulter. Die stahlblauen uralten Augen blickten mich traurig an. »Ich hoffe, dass es bei dir anders ist.«
»Es geht mir gut«, sagte ich. Ich weiß nicht wieso, aber meine Stimme war kaum lauter als ein Flüstern.
»Niemandem geht es je so gut, wie er sagt.« Gabriel nahm die Hand von meiner Schulter und trat ein paar Schritte zurück.
»Doch, mir schon.« Ich war jetzt unsicherer als zuvor. Ich mochte den Gedanken nicht, dass er mich beurteilte, ohne mich überhaupt zu kennen. Er hatte bereits entschieden, dass ich nicht lernen konnte, meine Fähigkeiten anzuwenden, ohne dem Wolf anheimzufallen, so wie Jude und er selbst.
»Sag mir, Grace, wie hast du dich gefühlt, als du Daniel den silbernen Dolch ins Herz gestoßen hast?«
Die Frage kam völlig unvorbereitet. Gabriel klang so nüchtern wie ein Therapeut, der einen Patienten analysierte, dass ich einen Augenblick völlig
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