Urbat - Der verlorene Bruder: Roman (German Edition)
Vielleicht Maryannes alte Uhr in seiner Wohnung? Außerdem hörte ich etwas, dass so klang, als spräche jemand mit gedämpfter Stimme.
»Wo bist du?«, fragte ich.
»Zu Hause.«
»Ist jemand bei dir?«
»Nein. Ich sehe bloß fern.« Ich hörte ihn husten, dann die Geräusche der Musik. Die Stimme erstarb.
»Du hast nicht angerufen. Du hast versprochen, mich anzurufen, hast es aber nicht getan.« Ich hätte seinen Anruf zwar gar nicht entgegennehmen können, aber egal.
»Tut mir leid«, sagte er. Keine weitere Erklärung.
»Wo bist du heute Nachmittag gewesen? Ich hab dort gesessen und fast eine Stunde auf dich gewartet. Ich dachte, du wolltest mir mit meiner Bewerbung helfen.«
»Das will ich auch, Gracie. Aber mir ist etwas dazwischengekommen.«
»Wie bitte? Was ist dir denn so Wichtiges dazwischengekommen,dass du unsere Verabredung vergessen konntest? Du hast mich nicht mal angerufen.«
Daniel seufzte. Einen Augenblick sagte er nichts. »Katie hat mich heute Morgen angerufen. Sie war völlig aufgelöst, weil ihre Brüder in ihr Zimmer gestürmt sind und alle Poster kaputt gemacht haben, die für die Verkaufsstände der Spendenaktion gedacht waren. Sie kam dann rüber und wir haben alles neu gemacht. Es war so viel Arbeit … Ich hab wohl einfach die Zeit vergessen.«
»Moment mal. Du willst mir also erzählen, dass du mich sitzen lassen hast, weil du mit Katie zusammen warst? Allein? In deiner Wohnung? Und du hast die Zeit vergessen? Was zum Teufel habt ihr wirklich gemacht?«
Daniel fluchte. »Es ist nicht so, wie es klingt. Du solltest mich besser kennen.«
»Sollte ich?« Ich hasste mich selbst, weil ich so wütend auf ihn wurde. Hätte ich ihm erzählt, was ich am Abend gemacht hatte, wäre das genauso schlimm gewesen. Doch ich hatte das alles nur getan, um Jude zu finden. Ein hehre Absicht war damit verbunden – nicht wie bei Daniel, der mich allein gelassen hatte, um mit einem anderen Mädchen Bilder zu malen. Das war doch immer unser Ding gewesen! »Du hängst in Kneipen rum, lügst mich an, läufst beim Abendessen davon und lässt mich sitzen. Ich hab das Gefühl, dass ich dich nicht mehr kenne.«
»Gracie, bitte …«
»Ich glaube langsam, du weichst mir aus, weil du mir damit sagen möchtest, dass du mich lieber vergessen und mit Katie nach Trenton gehen willst.«
»Tu das nicht, Grace!«, fauchte Daniel.
»Was?«
»Glaube bitte nicht, dass ich dich wegen irgendwem oder irgendwas in dieser Welt vergessen könnte.«
Ich seufzte. »Aber warum weichst du mir dann aus?« Mir fiel wieder diese SMS ein, die ihn vom Abendessen hatte flüchten lassen. Er hatte behauptet, sie wäre von Mr. Day gekommen. Aber wusste Mr. Day überhaupt, wie man eine SMS schreibt? »Geht es um irgendwas anderes? Bitte sag’s mir einfach.«
»Ich kann nicht.« Er holte tief Luft. »Ich brauche einfach etwas Zeit. Du musst Geduld mit mir haben.«
»Aber …«
»Ich brauche einfach noch etwas mehr Zeit. Das ist alles, worum ich dich bitte.«
Er hatte in keinster Weise zugegeben, dass irgendetwas nicht stimmte. Und nun wollte er, dass ich es einfach vergaß? Aber war das nicht genau dasselbe, das auch ich wollte? Nur ein wenig mehr Zeit, bevor ich ihm erzählen würde, dass ich mit Talbot trainierte? Es fühlte sich nur völlig anders an, wenn er derjenige war, der Geheimnisse hatte.
»Wie viel Zeit, Daniel? Denn ich weiß nicht, wie lange ich noch warten kann.«
»Ich weiß es nicht. Ich weiß es wirklich nicht.«
Ich spürte einen Stich im Herz. Ich spürte, wie sich etwas zwischen uns dehnte und auseinanderzog – und beinahe riss. Erst vor anderthalb Wochen hatten wir auf einem Bett aus Gras gelegen und die Sternschnuppen beobachtet.Plötzlich kam es mir vor, als wäre das schon eine Ewigkeit her.
Ich wäre gern wieder an diesem Ort gewesen. Ich wollte nicht, dass irgendetwas zwischen uns trat. Ich wollte all meine Geheimnisse verraten, damit er mir endlich von seinen erzählte.
Aber er vertraut dir nicht.
»Wir sehen uns morgen«, sagte ich und legte auf.
KAPITEL 19
Abschlussprüfung
Am nächsten Tag
Nachdem ich aus dem Club nach Hause gekommen war, konnte ich kaum schlafen. Ich bereute, vor dem Eintreffen der Shadow Kings gegangen zu sein, wusste aber, dass ich mich von Pete hatte entfernen müssen. Außerdem fragte ich mich, ob es richtig gewesen war, Daniel nicht alles zu erzählen.
Doch noch immer konnte ich es nicht tun.
Wenn Talbot diesen Shadow Kings am Abend zuvor gefolgt war,
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