Urbat - Der verlorene Bruder: Roman (German Edition)
ich näher an ihn herangekommen war. Hatte er mich am Abend zuvor im Club gesehen? Wusste er, dass Talbot ein paar von den Shadow Kings aufgespürt hatte – wenn es tatsächlich so gewesen war? Ich musste unbedingt sofort mit Talbot sprechen.
Das Problem war nur, dass Gabriel an Bord kletterte, als der Bus gerade losfahren wollte, und erklärte, er sei für diesen Tag unsere Aufsichtsperson. Es war das erste Mal seit Beginn des Projekts, dass er uns überhaupt begleitete. Ich hatte mich schon gefragt, ob er eine Abneigung gegen die Innenstadt hegte. Doch Daniel hatte mir erklärt, dassGabriel in der ersten Woche mit der ersten Gruppe und in der zweiten Woche mit der anderen Gruppe arbeiten wollte. Wieso musste er sich ausgerechnet diesen Tag aussuchen, um uns zu begleiten? Ich musste einen Weg finden, um mich mit Talbot absetzen zu können, ohne dass Gabriel ihn bemerkte.
Während wir zum Freizeitzentrum in Apple Valley fuhren, stand Gabriel vorn im Bus und hielt eine Ansprache über die Aufgabe des Tages, die eher nach einer Predigt klang. Ich holte mein Handy hervor, stellte es auf lautlos und schrieb an Talbot.
Ich: Hilfe! Jude hat eine SMS an April geschickt.
Talbot antwortete sofort: ?! Was hat er gesagt?
Ich wiederholte ihm Judes Mitteilung und fügte hinzu: Ich glaube, wir sind auf der richtigen Spur. Was hast du gestern Abend rausgefunden?
Talbot: Ich zeig’s dir, wenn du hier bist. Hab eine Überraschung für dich.
Ich: Problem. Gabriel ist im Bus.
Talbot: Sch****
Ich: Komm zur Rückseite des Gebäudes. Ich schleiche mich weg.
Talbot: Klingt gut.
Ich: Welche Überraschung?
Talbot: Wirst schon sehen …
Und dann, zehn Sekunden später: Bring deinen Pfahl mit. Ich durchsuchte noch immer meinen Rucksack, als der Bus auf den Parkplatz des Apple Valley Freizeitzentrums fuhr. »Mist«, stieß ich leise hervor.
»Was suchst du denn?«, fragte April.
»Meinen Pfahl«, flüsterte ich und sah zu Gabriel rüber, während er aus dem Bus stieg. »Ich könnte schwören, dass ich ihn am Freitag im Rucksack gelassen habe. Aber ich kann ihn nirgendwo finden.«
»Ähm …« April zog den Reißverschluss ihres Rucksacks auf und schob ihre Hand hinein. »Okay, werd bitte nicht sauer.« Sie zog den Pfahl heraus – oder zumindest etwas, das wie der Pfahl aussah, nur dass der Griff jetzt über und über mit hellblauen Kristallen und diamantähnlichen Steinen besetzt war.
»Du hast meinen Pfahl mit Glitzersteinen bepflastert?«
»Äh … Überraschung!«, rief April. »Nur weil du eklige Typen verfolgst, heißt das ja nicht, dass du’s ohne Stil machen musst.«
Später
Der Reihe nach stiegen wir aus dem Bus und betraten den Parkplatz, wo die Vans mit laufenden Motoren auf uns warteten – alle, bis auf Talbots. Die Klasse scharte sich um Gabriel, der noch mit seinem Vortrag beschäftigt war, sodass ich April und Claire ziemlich einfach zuflüstern konnte, im Freizeitzentrum mal eben auf die Toilette zu müssen. Dann schlich ich mich von der Gruppe weg. Ich lief ins Gebäude, duckte mich an der Empfangsdame vorbei und ging durch den Hintereingang wieder hinaus. Talbots Wagen wartete unter einer großen Eiche auf demöstlichen Teil des Parkplatzes auf mich. Um sicherzugehen, dass mich niemand beobachtete, blickte ich mich um. Dann stieg ich in das Auto.
Talbot begrüßte mich mit einem anerkennenden Lächeln. »Sieht so aus, als ob sich mein Einfluss langsam bezahlt macht. Du kannst dich ja schon richtig gut wegschleichen.«
»Gehört alles zum Programm«, erwiderte ich. »Also, was hast du rausgefunden? Und wo ist die große Überraschung?«
»Wie schon gesagt, du wirst es sehen.« Talbots Lächeln wurde doppelt so breit wie gewöhnlich. Er lenkte den Van auf die Straße. Er fuhr nicht zum Dōjō, wo wir normalerweise trainierten, sondern in entgegengesetzte Richtung auf die Innenstadt zu. Ich versuchte ihn auszufragen, was nach meinem Verschwinden am Abend zuvor im Club passiert war. Er hatte jedoch nur weiterhin dieses alberne Grinsen im Gesicht und sagte mit einem Singsang in der Stimme: »Du wirst schon sehen.« Vor lauter Spannung hätte ich ihm am liebsten einen Schlag auf den Arm versetzt. Mein Herz pochte in freudiger Erwartung.
Talbot parkte den Wagen vor einem alten Mietshaus in der Nähe der Tidwell-Bücherei. Ich konnte die Einmündung zu der kleinen Gasse sehen, wo wir die Frau vor den bewaffneten Gelals gerettet hatten.
»Uuuund?«, fragte ich und trommelte mit den Fingern auf das
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