Urbat: Die dunkle GabeRoman (German Edition)
Messer in seiner Riesenhand reflektiert.
Ich schrie. Es war ein schrilles, fremdartiges Geräusch, und im ersten Moment bemerkte ich gar nicht, dass ich selbst es ausgestoßen hatte. Doch ich konnte nicht aufhören.
Der hünenhafte Schatten stürzte sich auf mich.
Ich wollte losrennen, stolperte jedoch über irgendetwas, das auf der Straße lag.
Der Bärenmann holte mich ein, packte mich an den Hüften und riss mich hoch – weg von Petes verkrümmtem Körper.
Das Biest hielt mich an seine Brust gedrückt, sein keuchender Atem streifte mein Ohr. Ich trat nach seinen baumstumpfartigen Beinen. Ich schrie lauter, wenngleich ich wusste, dass mich niemand in der Schule durch das pulsierende Geräusch der Musik hören konnte. Eine riesige Hand presste sich auf mein Gesicht, bedeckte Mund und Nase und brachte mich zum Schweigen.
»Nicht schreien.« Seine Stimme klang gepresst, beinahe weinend. Er hatte Angst. »Bitte nicht schreien, Miss Grace.« Er war alles andere als ein Monster.
»Don?«, versuchte ich zu sagen, doch seine Hand presste sich so fest auf meinen Mund, dass ich keinen Ton hervorbrachte.
»Das wollte ich nicht. Er hat Ihnen wehgetan. Ich dachte, er sei das Monster. Ich musste ihn aufhalten. Ich soll mich doch wie ein Held benehmen, so wie es mir mein Großvater beigebracht hat.« Dons Messer schabte über meinen Arm, während er mich weiter festhielt. Es war klebrig und feucht von Petes Blut. »Aber er ist nicht das Monster, oder?« Dons Stimme wurde schriller. »Er ist … nur ein Junge.« Seine Hand presste sich noch fester über mein Gesicht. »Das wollte ich nicht.«
Ich konnte nicht atmen. Ich versuchte ihm zu sagen, er solle mich loslassen, aber ich hatte keine Stimme. Ich krallte meine Fingernägel in seine Hände.
»Sie dürfen nicht schreien, Miss Grace. Sie dürfen es niemandem erzählen. Der Pastor wird wütend sein. Er wird mich bestimmt fortschicken, so wie er es damals nach dem Feuer schon tun wollte. Das wollte ich nicht. Ich habe nur versucht zu helfen.«
Etwas Blut tropfte von seinem Messer und rann an meinem Arm hinab.
»Sie dürfen es niemandem erzählen!«, heulte Don. Eine heiße Träne landete auf meiner Schulter.
›Hör auf! Du tust mir weh! Ich kriege keine Luft!‹
»Ich wollte das nicht. Ich wollte das nicht«, heulte Don wieder und wieder. Während er schluchzte, verstärkte sich der Griff seiner Hand, als hätte er vergessen, dass ich überhaupt noch da war.
Ich blinzelte, versuchte die langen, dürren Finger der Dunkelheit zu bekämpfen, die sich hinter meine Augen tasteten. Mein Körper fühlte sich taub an, unkontrollierbar.
Dann konnte ich mich nicht länger gegen die Dunkelheit wehren.
Drei Jahre zuvor
Ich starrte vom Fenster des vorderen Wohnzimmers in die stille, ruhige Dunkelheit. Blickte hinaus. Wartete.
Mom lief im Zimmer auf und ab. »Ich verstehe nicht, wo er bleibt«, sagte sie, mehr zu sich selbst als zu jemand anderem. »Die Nagamatsus haben gesagt, er hätte Scouts bereits vor zwei Stunden verlassen.«
Dad beendete sein Telefonat und kam aus seinem Arbeitszimmer.
»Wer war es?«, fragte Mom und stürzte sich fast auf ihn. »Was haben sie gesagt?«
»Don«, antwortete Dad. »Es gibt ein Problem in der Pfarrkirche.«
Mom schnappte nach Luft. »Jude?«
»Nein. Irgendwas mit der Renovierung.«
»So spät noch?«
Die Schlüssel klimperten, als Dad sie vom Haken nahm. »Ich komme bald zurück.«
»Aber was ist mit Jude?«
Dad seufzte. »Er ist ein guter Junge. Wir fangen erst anuns Sorgen zu machen, wenn er bis zu meiner Rückkehr noch nicht wieder da ist.«
Mom machte ein Geräusch, das ihre Missbilligung auszudrücken schien.
Ich konnte meinen Blick nicht von der Schwärze der Nacht losreißen. Die Sturmwolken teilten sich plötzlich, und ich glaubte zu sehen, dass sich nahe dem Walnussbaum etwas bewegte. Ich beugte mich dichter ans Fenster.
»Jude!«, rief ich. »Ich sehe ihn.«
»Gott sei Dank«, erwiderte Mom, doch ihre Stimme klang, als hätte sie bereits eine Strafpredigt im Sinn gehabt.
»Du könntest ihm ja ein Handy …« Ich ritt auf meinem Lieblingsthema herum, bemerkte dann jedoch, dass Jude gar nicht auf das Haus zulief, sondern schwankte.
Und wieso war sein Gesicht mit Schokolade verschmiert?
Jude ergriff das Geländer der Veranda. Seine Beine knickten ein, und er kauerte sich auf die Verandastufen.
»Jude!« Ich rannte zur Vordertür, doch Dad war schon da.
»Nein, Gracie!«, rief Mom.
Mom und Dad standen in
Weitere Kostenlose Bücher