Urbat: Die dunkle GabeRoman (German Edition)
muss an etwas anderem gestorben sein, vielleicht eine Überdosis. Er muss ihre Körper irgendwie so zugerichtet haben, dass es aussah wie der Angriff eines Wolfs. Die Gewalt gegen die Tiere zählt dabei nicht. Diese tote Katze war nur ein Showeffekt. Und James wollte er auch nicht töten. Er wollte den Leuten nur Angst machen.«
»Aber wie konnte
er
all diese Dinge tun? Wie konnte er nur James entführen? Wusste er denn nicht, dass sein eigener Bruder hätte verletzt werden können oder noch schlimmer? Wenn du nicht da gewesen wärst, dann wäre James vielleicht gestorben.«
»Es war der Wolf, Grace. Der Wolf hat noch nicht völlig von ihm Besitz ergriffen, hat aber genügend Kontrolle, um seine Handlungen zu beeinflussen. Er nährt sich von Judes Gefühlen. Je stärker die Gefühle, desto mehr Macht bekommt er. Er hat immer dann etwas gemacht, nachdem wir zusammen waren …«
»Er wusste, dass du mein Auto auf der Markham Street repariert hast«, sagte ich. »Und irgendwie wusste er auch, dass ich auf dieser Party in deiner Wohnung war. Er wusste außerdem, dass Jess auch da war. Glaubst du, er ist mir gefolgt, meinem Geruch nachgegangen?« Ich rieb mir die Augen; sie wollten mich noch immer nicht richtig scharf sehen lassen.
»Jess war so geschwächt«, fuhr ich fort. »Vielleicht hater sie aufgespürt. Vielleicht hat der Wolf ihn dazu gebracht, irgendetwas mit ihrer Leiche zu machen und sie irgendwohin zu bringen. Aber niemand hat sie gefunden.« Mein Magen drehte sich, als ich mir meinen Bruder mit Jessicas zugerichteter Leiche vorstellte. »Und heute war er am Supermarkt. Er muss uns zusammen gesehen haben. Und mit diesen ganzen Gerüchten, die Lynn verbreitet hat … Pete sagte, Jude habe drei Stunden gebraucht, um die Blumen abzuholen.« Mein Hals zog sich unwillkürlich zusammen. »Glaubst du, er ist vielleicht in die Stadt gefahren, hat ihre Leiche geborgen und sie dann dort deponiert, wo du arbeitest?«
Daniel nickte. »Und weißt du, was das Verrückte ist, Grace? Wahrscheinlich wird er sich an nichts davon erinnern. Wahrscheinlich weiß er nur, dass er sich an ein paar Minuten oder auch Stunden seines Lebens nicht erinnern kann. Aber er weiß nicht, was er getan hat. Er glaubt wirklich, dass
ich
das Monster bin.«
»Und jetzt glaubt er, er müsse dich aufhalten.«
Daniel erstarrte und blickte aus dem Fenster. Eine Sekunde später hörte auch ich es: Polizeisirenen unterwegs zur Schule.
»Jude will dich töten«, sagte ich tonlos.
Daniel löste sich vom Fenster. »Dann ist die Polizei wohl unsere geringste Sorge.«
»Wir müssen Jude finden!« Ich schwang meine Beine über den Tisch. »Er sucht nach dir. Wir müssen ihn zuerst finden!« Ich fühlte mich jetzt besser und versuchte aufzustehen.
Daniel schob mich zurück.
» Wir
gehen nirgendwohin. Du bleibst hier, während ich Jude suchen gehe.«
»Ich bleibe nicht hier, verdammt!« Ich richtete mich auf. »Hör auf mir zu sagen, was ich tun soll!«
»Grace, das ist kein Spiel. Bleib bitte hier.«
»Und was ist, wenn er mich zuerst findet?«, fragte ich und probierte eine neue Taktik. »Was, wenn er nach Hause geht? Charity passt auf James auf. Sie haben keine Ahnung, was mit Jude los ist. Was ist, wenn er auch versucht, ihnen was anzutun?«
Daniel rieb sich verzweifelt mit der Hand übers Gesicht. »Und was sollten wir deiner Meinung nach tun?«
»Nimm mich mit. Wir müssen Jude finden. Wir müssen ihn von all den Leuten wegbringen. Wenn er uns zusammen entdeckt, können wir ihn von hier weglocken.« Und dann was? Ich wusste nicht weiter. »Vielleicht kann ich ihn beruhigen. Wenn wir bloß noch einen Mondstein hätten.« Ich blickte auf seinen Anhänger. »Könntest du …?«
»Nein, Grace. Nicht heute Nacht. Nicht bei Vollmond. Ich weiß nicht, ob ich es kontrollieren könnte – nicht so lange du hier in meiner Nähe bist.« Er rieb den Anhänger zwischen seinen Fingern. »Ich könnte alle vernichten.«
»Dann muss es einen anderen Weg geben.«
Sirenengeheul dröhnte über den Parkplatz. Diesmal war mehr Polizei als nur der Sheriff und sein Gehilfe unterwegs. Die Polizei aus der Innenstadt musste offensichtlich vom Ort des Geschehens am Supermarkt hierher gekommen sein.
»Wir brauchen einen Plan«, sagte Daniel.
Draußen vor dem Fenster wurden Autotüren zugeschlagen.
»Uns bleibt keine Zeit.« Ich griff nach seiner Hand und wir rannten aus dem Kunstraum.
Das Echo unserer Schritte verlor sich in der Musik, als wir näher zur
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