Urbat: Die dunkle GabeRoman (German Edition)
also?« Jude verdrehte mir das Handgelenk. »Sie war da, oder etwa nicht?«
»Ja«, sagte ich. »Aber Daniel hatte nichts damit zu tun. Er hat es mir gesagt …«
»Er hat es dir gesagt? Und du hast ihm einfach so geglaubt?« Als Jude seine Finger in meinen Arm bohrte, fühlten sie sich an wie spitze Zähne. »Natürlich hast du ihm geglaubt. Du würdest ja alles glauben, was er sagt.«
»Jetzt reicht es«, erwiderte ich und versuchte dabei, wiemein Vater zu klingen, doch Judes Finger krallten sich nur noch fester in meinen Arm.
»Ich verstehe das nicht«, sagte Pete von der anderen Seite des Wagens. »Glaubst du, dass dieser Kalbi hierfür verantwortlich ist?«
»Es war nicht Daniel«, warf Don ein. Er senkte seine Stimme und wollte mit mir allein sprechen, doch sein Flüstern klang eher wie ein lautes Rufen. »Es war das Monster, Miss Grace.« Er blickte über meinen Kopf hinweg zu Pete. »Es war auch das Monster, das James entführt hat. Ihr Vater und ich waren auf der Polizeiwache in der Innenstadt. Er fragte nach den Ergebnissen der Blutuntersuchung. Doch sie sagten, sie hätten keine. Sie konnten nicht einmal herausfinden, ob das Blut von einem Menschen oder einem Tier stammte. Es muss das Monster gewesen sein.«
»Kapierst du’s nicht?« Judes Hand zitterte. Er ließ meinen Arm los. »Begreifst du nicht, dass er es war?«
»Nein«, sagte ich. »Das kann nicht sein. Es muss noch jemand anderen geben.«
Jude taumelte auf mich zu und fasste mich an den Schultern. »Wo ist er?«
»Hör auf, Jude«, erwiderte ich ruhig und hatte schon Angst, dass die Polizisten auf der anderen Straßenseite auf uns aufmerksam würden.
»Jetzt beruhigt euch mal, Leute.« April zupfte an Judes Arm, doch er rührte sich nicht.
»Wo ist Daniel?« Jude drückte mir die Schultern unter meinem Seidencape zusammen und schüttelte mich.
»Ich weiß es nicht«, gab ich zurück. »Ich weiß es wirklich nicht.«
Jude ließ mich los. Er ging zurück zur Fahrerseite des Wagens.
Wie war er an die Schlüssel gekommen?
»Hör auf, Jude. Das ist verrückt. Du hast getrunken.« Ich blickte Hilfe suchend zu Don, doch er wich zurück.
»Bitte!«, rief April.
»He!« Pete trat Jude in den Weg. »Wenn du glaubst, dass es Kalbi war, dann erzähl es der Polizei.«
»Nein«, gab Jude zurück. »Sie können ihn nicht aufhalten.«
»Und was hast du jetzt vor?«
»Ich werde ihn suchen.«
»Dann komme ich mit«, sagte Pete und öffnete eine der hinteren Wagentüren.
»Nein!« Ich versuchte, Jude die Schlüssel zu entreißen, doch er schob mich weg.
»Hey«, rief jemand von der Polizeiabsperrung herüber. »Was ist denn da los?«
Jude ließ sich auf den Fahrersitz fallen. Als er den Motor startete, kletterte ich auf den Rücksitz neben Pete.
»Hey! Stopp!«, rief jemand.
Doch Jude brachte den Wagen ins Rollen, und schon sausten wir die Main Street hinunter und ließen April und Don zurück.
Wir fuhren nicht weit. Jude raste nur ein paar Blocks weiter und bog dann in die Crescent Street ein. Wir kamenzur High School, und gerade als ich dachte, dass wir vorbeifahren würden, riss Jude das Steuer herum und fuhr auf den voll besetzten Parkplatz. Er fuhr kreuz und quer über den Platz und suchte zwischen jedem Auto.
»Dreh um, Jude«, sagte ich leise. »Lass uns nach Hause fahren und mit Dad reden. Er kann uns bestimmt helfen.«
Jude hielt den Wagen vor der Gasse zwischen Schule und Pfarrkirche an. Er öffnete die Tür und stieg aus.
»Was machst du?«, fragte Pete.
»Er ist hier«, sagte Jude. »Ich weiß, dass er hier ist.« Einen Moment lang stand er ganz ruhig da, so als ob er lauschen würde. Alles was ich hören konnte, war das Echo der Musik aus der Turnhalle.
»Jude, bitte. Sei doch vernünftig«, sagte ich und wollte aus dem Wagen steigen.
»Halt sie zurück!«, rief Jude.
Pete fasste meinen Arm.
»Halt sie hier fest. Koste es, was es wolle.« Jude lief ein paar Schritte in die Gasse hinein.
Eine Polizeisirene heulte an der Schule vorbei und setzte sich zur Crescent Street fort.
»Was hast du vor?«, fragte ich.
»Ich werde das jetzt ein für allemal beenden.« Jude drehte sich zu mir.
Und dann sah ich es: Seine Augen, einst Spiegelbilder meiner eigenen, waren zu zwei Tornados geworden: schwarz, silbrig, scharf, verzerrt. Funkelnd gaben sie das Licht des Vollmonds wieder.
Menschliche Augen leuchten nicht im Dunkeln. Nur die Augen eines Tieres tun das.
»Nein!!!«, schrie ich keuchend und versuchte, mich aus Petes
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