Urbat: Die dunkle GabeRoman (German Edition)
der Tür, wie eine Mauer waren sie vor mir. »Was ist passiert?«, fragte ich und versuchte, zwischen ihnen hindurchzuschielen.
»Da…«, hörte ich Jude stammeln. Er hustete, als ob er gleich erstickte. »Dan…«
Dad schob mich zurück. »Geh weg, Gracie.«
»Aber …«
»Geh in dein Zimmer!«
Plötzlich wurde ich die Treppe hinaufgeschoben. Abgesehen von meiner Mutter und ihren abwehrenden Händen sah ich nichts mehr. »In dein Zimmer. Jetzt. Da bleibst du.«
Ich lief in mein Zimmer und zog die Jalousien hoch. Ich konnte weder die Veranda noch irgendetwas von Jude sehen. Doch dann erblickte ich etwas anderes. Etwas Weißes und dennoch Dunkles kauerte im Licht des Vollmonds unter dem Walnussbaum und beobachtete, was ich auf der Veranda nicht sehen konnte. Ich schaute angestrengt hinunter, versuchte zu erkennen, was es war, doch es zog sich in den Schatten zurück und verschwand.
»Es tut mir leid«, flüsterte es aus der Dunkelheit und unterbrach die vergessene Erinnerung in meinem Kopf. Es klang wie eine Phantomstimme aus vergangener Zeit. Sie war zu weit weg, ich versuchte zu ihr zu gelangen, doch irgendetwas hielt mich ganz fest – ich konnte nicht sagen, was es war.
»Es tut mir leid, Don«, sagte das Phantom.
Der Stimme folgte ein dumpfes Krachen, ein metallisches Klicken und ein leises Keuchen. Die Bande, die mich gefesselt hatten, fielen ab, und ich spürte das Rauschen des Windes, etwas Festes unter meinem Rücken und Wärme auf meinen Lippen. Süßliche Luft füllte meinen Mund und meine Lungen. Der dunkle Nebel in meinem Gehirn lichtete sich. Meine Augenlider waren schwer, als ich sie öffnete.
Daniel blickte mich an, seine Augen waren schwarz vor Zorn. »Du bist nicht zu Hause geblieben«, knurrte er.
Ich hustete und versuchte, mich aufzurichten. Offenbar lag ich auf einem Tisch. Doch mein Kopf war so schwer wie ein Lastwagen, und anstatt Daniel anzusehen, rollte ich mich auf die Seite. Er schien mehr ängstlich als wütend zu sein.
»Du hast mir nicht gesagt, dass du meinen Bruder gebissen hast«, murmelte ich.
Einige Minuten später
»Ist alles in Ordnung mit Don?« Ich lag auf einem Tisch im Kunstraum und rieb mir über die schmerzende Kinnlade. Der Rhythmus der Musik aus der Turnhalle vermischte sich mit dem Dröhnen in meinem Kopf.
Daniel lief am Fenster hinter Barlows Schreibtisch auf und ab. Seit meiner Feststellung wenige Minuten zuvor hatte er mich nicht mehr angesehen. »Ich hab ihn nur bewusstlos geschlagen. Er kommt bald wieder in Ordnung.«
» Nur
bewusstlos geschlagen?«, fragte ich. »Und was ist mit Pete? Denkst du, er ist tot?«
»Pete?« Daniel sah überrascht zu mir herüber. »Pete war nicht da.«
»Oh, das ist wahrscheinlich gut.« Pete war vielleicht weggelaufen und hatte mich meinem Schicksal überlassen, aber ich war trotzdem froh, dass er nicht tot war. Ichüberprüfte den gerissenen Träger meines Kleids. Blaue Flecken hatten sich auf meiner Haut gebildet. »Pete hat mich angefallen … Er hat mich so zugerichtet.«
Daniel Hände wurden zu Fäusten. »Ich hatte das Gefühl, ihn überall an dir riechen zu können.« Seine Augen wurden jetzt noch schwärzer. »Gut, dass er nicht da war, sonst hätte ich …«
»Don ist dir zuvorgekommen. Er hat ihm mit seinem Silberdolch in die Seite gestochen. Er dachte, Pete sei das Monster, und dann ist er irgendwie zusammengeklappt, als ihm bewusst wurde, was er getan hat.«
Daniel nickte, als ob ihm die Situation plötzlich klar würde. »Ich habe mehr Verzweiflung als Bosheit bei ihm gespürt.«
Ich setzte mich auf. Kleine Lichtblitze tanzten vor meinen Augen. »Warum hast du mir nicht gesagt, dass mein Bruder das Monster ist?«
Daniel drehte sich zum Fenster. »Weil ich mir selbst nicht sicher war. Ich kann mich nicht erinnern, ihn gebissen zu haben. Ich versuchte zu verdrängen, dass womöglich so etwas passiert war – bis zu dem Tag, an dem James verschwand. Es war Judes Blut auf der Veranda. Doch es roch nicht normal, sein Geruch war ungewöhnlich.«
»Weil er ein Werwolf ist?«
Daniel starrte aus dem Fenster und betrachtete den Vollmond über der Pfarrkirche nebenan. Er strich über seinen steinernen Anhänger. »Er ist kein Werwolf. Noch nicht, zumindest.«
»Doch er hat all diese Leute angefallen und verletzt. Erwar es doch, oder? Macht ihn das nicht zu einem echten Werwolf? So ein raubtierhaftes Verhalten?«
»Nicht, wenn sie schon tot waren, als er sie fand. Maryanne ist erfroren. Jessica
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