Urbat: Die dunkle GabeRoman (German Edition)
nein! Hab ich dich in Schwierigkeiten gebracht? Ich hab’s nicht so gemeint. Woher wusste er denn, dass es Daniels Bild war?«
»Ich hab’s ihm gesagt.«
»Wie bitte? Bist du total verrückt?« Aprils Augen wurden groß. Sie beugte sich dicht zu mir rüber und flüsterte: »Du bist in ihn verliebt, stimmt’s?«
»In Barlow?«
»Du weißt, von wem ich rede.« Sie sah zu Daniel hinüber, der auf seinen Beinen herumtrommelte. »Du bist immer noch in ihn verliebt.«
»Bin ich nicht. Und auch nie gewesen. Es war nur eine dumme Schwärmerei.« Ich wusste, dass sie falsch lag, spürte aber, wie mir die Hitze in den Nacken stieg. Um das Thema zu wechseln, klammerte ich mich an den ersten Gedanken, der mir in den Kopf kam. »Willst du nichts über Jude und Maryanne Duke wissen?«
Aprils Gebaren änderte sich schlagartig. Ihre Augen wurden sanft, und sie fuhr sich mit den Fingern durch die Haare. »Ach, du meine Güte. Er sah so traurig aus, als ich gestern Abend bei euch gewesen bin. Und heute Morgen hörte ich Lynn Bishop im Flur über Maryanne reden; ihr Bruder arbeitet als Sanitäter in Oak Park. Ich hörte sie sagen, dass dein Dad und Jude etwas damit zu tun hätten. Aber ich hab nicht genau verstanden, was sie gesagt hat.Und diese Typen in Bio fingen wieder mit dem Markham Street Monster an.«
Ich schüttelte den Kopf. »Du weißt doch, dass das nur ein Märchen ist, oder? Und außerdem wohnt … wohnte Maryanne nicht in der Markham Street.« Ich wusste, dass es nur eine Horrorstory war – eine Geschichte, die ich kannte, seit ich ein kleines Kind gewesen war –, aber es lief mir kalt den Rücken runter, als ich hörte, dass die Leute das Monster wieder erwähnten. Und ich wusste außerdem, dass man nicht automatisch gegen merkwürdige Geschehnisse immun war, nur weil man nicht auf der Markham Street wohnte. Seitdem ich das von Maryanne gehört hatte, ging mir die Erinnerung an meinen verstümmelten kleinen Hund nicht mehr aus dem Kopf.
»Ja, aber was mit Maryanne passiert ist, ist keine erfundene Geschichte«, erwiderte April. »Und wieso behaupten alle, dass Jude etwas damit zu tun hat?«
Ich blickte durch das Fenster in Barlows Büro. Er telefonierte, und es sah aus, als ob es noch eine Weile dauern würde. April schien ernsthaft besorgt, und ich wollte unbedingt mit jemandem über die Geschehnisse reden. Ich senkte die Stimme, sodass niemand (besonders Lynn) mich hören konnte, und erzählte April, wie Jude die Leiche gefunden hatte und die Dukes meinen Vater verantwortlich machten. Ich erzählte ihr auch von den Nachwehen: wie Jude ausgeflippt war und meine Eltern miteinander gestritten hatten.
April umarmte mich. »Wird schon wieder in Ordnung kommen.«
Doch wie konnte sie das wissen? Sie hatte nicht mitbekommen, wie komisch es gewesen war, allein am Tisch zu sitzen und zu essen, oder wie heftig sich meine Eltern angebrüllt hatten. Aber dann wurde mir klar, dass April
wusste
, wie sich so etwas anfühlte. Sie war mit vierzehn hergezogen, nachdem ihre Eltern sich getrennt hatten, und die Arbeitszeiten ihrer Mutter waren in letzter Zeit länger und länger geworden. Ich hatte sie zu unserem Thanksgiving-Essen eingeladen, damit sie den Tag nicht allein verbringen musste.
Nichts davon schien mir wirklich ›in Ordnung‹ zu sein.
Barlow kam aus seinem Büro. Er knallte einen Karton mit leeren Pepsidosen auf den Tisch und begann zu arbeiten, ohne der Klasse irgendwelche Vorgaben zu machen.
»Willst du heute zum Mittagessen mit ins Café kommen?«, fragte ich April. »Jude macht es sicher nichts aus, wenn wir einfach auftauchen. Außerdem kann er bestimmt Abwechslung gebrauchen.«
April biss sich auf die Lippe. »Okay. Er braucht ganz sicher etwas Trost.« Sie runzelte ein wenig die Stirn, doch zugleich zitterte sie wieder so aufgeregt, wie es typisch für sie war.
Mittagessen
Normalerweise brauchte es
sehr viel
Überredungskunst, um April ins Rose Crest Café zu locken. Und wenn sie dann mitging, was selten vorkam, setzte sie sich von derGruppe ab und hing mit Miya, Claire, Lane und ein paar anderen Schülerinnen des ersten Jahrgangs herum, die die älteren Schüler ehrfürchtig aus angemessener Distanz beobachteten. In dieser Hinsicht ähnelte April wirklich meiner alten Hündin Daisy. Sie kläffte herum und war mutig, wenn ich allein mit ihr war, doch in der Öffentlichkeit hielt sie sich zurück und zog den Schwanz ein.
Doch heute schien sie aus einem völlig anderen Holz geschnitzt zu
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