Urbat: Die dunkle GabeRoman (German Edition)
Weihnachtssterns auf dem Bücherregal nach hinten und zog den Schlüssel hervor, der sich darunter befand. Dannschloss ich die oberste Schublade des Schreibtischs auf, in der mein Vater wichtige Dinge wie die Geldkassette für die Sonntagskollekte und den Erste-Hilfe-Kasten aufbewahrte. Ich legte das Messer unter eine Taschenlampe und verschloss die Schublade wieder.
Als ich den Schlüssel zurücklegte, verspürte ich plötzlich heftige Gewissensbisse. Ich wusste zwar, was Don mit dieser Klinge aus kühlem Silber anstellen konnte, aber dennoch tat es mir leid um seinen Verlust. Ich konnte mir nicht recht vorstellen, wie es war, wenn man nur ein einziges Erinnerungsstück an einen geliebten Menschen besaß.
»Hey.« Charity kam ins Büro. »Wirklich nett, was du für Don getan hast.«
»Ich hab’s eigentlich eher für Dad getan«, erwiderte ich. »Ich möchte nicht, dass er morgen früh aufwacht und dann bereut, was er heute getan hat.«
»Ich glaube kaum, dass Dad schon morgen wieder der Alte ist.«
Ich blickte zu ihr auf. Sie blinzelte etwas zu schnell. »Wieso?«, fragte ich, wenngleich ich die Antwort nicht wirklich wissen wollte. Ich hielt mich lieber an die Vorstellung, dass ich am nächsten Tag aufwachen würde und alles so war, wie es sein sollte: Haferflocken zum Frühstück, ruhige Tage an der Schule und ein fantastisches Huhn-mit-Reis-Abendessen mit der ganzen Familie.
»Maryannes Tochter will, dass morgen die Beerdigung stattfindet, noch vor Thanksgiving, weil sie nicht irgendeine geplante große Reise absagen wollen.«
Ich seufzte. »Daran hätte ich wohl denken sollen. Auf den Tod folgt für gewöhnlich eine Beerdigung.«
Es war eine der üblichen Aufgaben für uns Pastorenkinder, meiner Mutter bei der Zubereitung von Reis-Pilaw und allen möglichen Schmorgerichten für die trauernden Hinterbliebenen zu helfen, doch ich war nicht mehr auf einer Beerdigung eines nahen Verwandten gewesen, seitdem ich acht Jahre alt gewesen und mein Opa gestorben war.
»Das war noch nicht die schlechte Nachricht«, fügte Charity hinzu. »Maryannes Familie hat den Pastor aus New Hope gebeten, für die Trauerfeier herzukommen. Sie wollen nicht, dass Dad die Zeremonie abhält. Sie machen ihn immer noch verantwortlich.«
»Wie bitte? Das ist nicht fair. Dad kannte Maryanne sein ganzes Leben lang, und er war ihr Pastor, seitdem du auf der Welt bist.«
»Ich weiß, aber sie lassen sich nicht davon abbringen.«
Ich sank auf dem Schreibtischstuhl zusammen. »Kein Wunder, dass er so redet, als ob er aufgeben möchte.«
»Und weißt du, was das Schlimmste ist? Pastor Clark hat von unserem Duett am Sonntag gehört, und jetzt möchte er, dass wir es auf der Trauerfeier singen, weil es Maryannes Lieblingslied war.«
Ich öffnete den Mund, um zu protestieren.
»Mom sagt, wir müssen.« Charity seufzte. »Sie meint, es sei unsere Verpflichtung oder so ähnlich.«
Verpflichtung. Ich begann, dieses Wort zu hassen.
KAPITEL 8
Versuchung
Mittwochnachmittag, bei der Trauerfeier
Ein düsterer Schatten lag über der Gemeinde und berührte die Herzen all derer, die sich zu Maryanne Dukes Trauerfeier in die Kirche drängten. Sogar die Schule war wegen der nachmittäglichen Feier bereits früh beendet worden. Alle waren gedrückter Stimmung – alle, mit Ausnahme meiner Mutter. Ich ahnte schon, dass sie sich noch immer in ihrem übertriebenen Perfektionsmodus befand, als sie frühmorgens um vier anfing, in der Küche zu rumoren, um ein Gastmahl für gefühlt mindestens tausend Trauergäste auf die Beine zu stellen. Ihr enthusiastischer Tonfall schreckte mehr als ein paar trübselig gestimmte Menschen auf, die sie vor dem Gottesdienst gemeinsam mit Pastor Clark begrüßte, und sie lud jeden, den auch nur der leiseste Hauch von Einsamkeit umgab, zur großen Thanksgiving-Show am nächsten Tag in unser Haus ein.
»Ihr könnt einladen, wen immer ihr wollt«, sagte sie zu Charity und mir, als wir die mit Essen beladenen Tabletts in die Blaue Blase luden. »Ich möchte, dass dies das schönste und herzlichste Thanksgiving wird, das euer Vater je erlebt hat. Er kann wirklich etwas Gesellschaft brauchen.«
Doch ich war mir nicht sicher, ob sie da so richtig lag.Noch vor der Trauerfeier hatte sich Dad von seinen Begrüßungspflichten zurückgezogen und saß schließlich mutterseelenallein in der einzigen leeren Ecke der Kirche – und nicht auf seinem Platz auf der Kanzel, wie es ihm als vorsitzendem Pastor der Gemeinde
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