Urbat: Die dunkle GabeRoman (German Edition)
selbst auf zu lügen!« Judes Gesicht war genauso verzerrt wie in der Nacht, als er Maryannes Leiche gefunden und dann nach mir gesucht hatte. Ich hatte Angst, dass er auch mich jetzt schlagen würde – obwohl ich bis zu diesem Moment gar nicht gewusst hatte, dass er überhaupt fähig war, jemanden tätlich anzugreifen. »Die Schlucht ist ausgetrocknet, und das weißt du auch«, sagte er.
Mom schnappte nach Luft. Das Geräusch wurde von den Zuschauern zurückgegeben, die plötzlich versuchten näher an uns heranzukommen, als der Hilfssheriff seinen Posten verlassen hatte.
Der Sheriff musste seinen Klammergriff gelöst haben, denn Jude riss sich los. »Nehmen Sie ihn fest!« Wieder stürzte er sich auf Daniel. »Nehmen Sie dieses
Monster
fest!«
»Jetzt reicht’s!« Dad packte Jude Arm und schleuderte ihn herum. Jude stolperte über seine Absätze und fiel zu Boden.
Dad stand jetzt über ihm, die Füße rechts und links nebenJudes ausgestrecktem Körper auf den Boden gestemmt. Ich hatte Dad noch nie zuvor so tyrannisch erlebt. »Komm runter!«, kommandierte er. »Hör jetzt auf mit diesen Lügen!«
Jude stöhnte und rollte sich auf die Seite. Es schien, als hätte der Sturz ihm wieder zu normalem Bewusstsein verholfen. Sein Gesicht und seine Fäuste entspannten sich.
»Was sollen wir denn jetzt tun?«, fragte Hilfssheriff Marsh. Noch immer hielt er Daniels Arm fest. »Wenn Sie wollen, können wir ihn hier mit auf die Wache nehmen.«
»Mit welcher Begründung?« Dad drehte sich zu den Schaulustigen, seine Stimme wurde lauter. »Das Kind ist ausgebüxst. Daniel hat es zu uns zurückgebracht. Mehr gibt es nicht zu sagen.« Er beugte sich zum Hilfssheriff rüber und bat ihn leise, Daniel loszulassen. »Ich danke Ihnen allen, dass Sie uns in der Zeit der Not beigestanden haben«, sagte er dann mit seiner schönsten Pastorenstimme. »Sicher möchten Sie alle zu Ihrem Thanksgiving-Fest zurückkehren. Und wenn Sie erlauben, muss sich meine Familie jetzt um ein paar Dinge kümmern.« Dad wandte sich Mom zu. »Meredith, bring James rein. Ich werde mal sehen, was man mit dem Zaun machen kann. Daniel, Jude, ihr kommt mit mir.«
Jude war jetzt wieder auf den Beinen, wich aber vor Dads Berührung zurück. Er schüttelte den Kopf und lief dann ins Haus. April tauchte aus der Menschenmenge auf und folgte ihm.
»Daniel?«, fragte Dad. Irgendetwas am Blick meines Vaters war völlig ungewöhnlich.
Daniel nickte kurz und ging mit ihm.
Dad musste gespürt haben, dass ich mitkommen wollte. »Gracie, geh und hilf deiner Mutter«, sagte er. Seine Stimme war so angespannt, als ob er beim Sprechen den Atem anhielte.
Ich stand auf dem Rasen und sah zu, wie sie um das Haus herumliefen. Der Hilfssheriff und der Sheriff grummelten in sich hinein und trotteten zu ihren Autos. Unsere Freunde und Nachbarn verzogen sich – genauso wie meine Hoffnung, Daniel und Judes Verhältnis jemals wieder kitten zu können.
KAPITEL 12
Unbeantwortete Fragen
Im Haus, circa zwanzig Minuten später
Meine Mutter schaltete komplett auf ihren Mutter-der-Nation-Modus um. Sie ließ nicht zu, dass der Sheriff James ins Oak Park Hospital brachte, und beharrte auf ihrem Standpunkt, sie und Doktor Connors seien durchaus in der Lage, sich um ihn zu kümmern. Nach einer gründlichen Untersuchung durch den Doktor ließ sie James schließlich los und beorderte Charity, ein warmes Bad für ihn zu bereiten. Dann klebte sie ein paar Pflaster mit Superman-Motiven auf die Kratzer, die Don Mooney sich irgendwie am Arm zugezogen hatte, und schickte die letzten verbleibenden Gäste mit Resten des abgebrochenen Festmahls nach Hause. Ich wollte mich gerade zur Hintertür hinausschleichen, um nach Daniel zu suchen, als Mom mich an den Küchentisch rief.
»Lass mich mal deine Hand anschauen.«
Ich zuckte zusammen, als sie ein paar Steinchen aus der Wunde entfernte.
»Du kannst von Glück reden, dass es nicht genäht werden muss«, sagte sie und schnalzte mit der Zunge.
Ich ließ sie meine Hand reinigen und versuchte stillzuhalten. Ich dachte mir, je weniger ich protestierte, umso schneller könnte ich wieder zu Daniel. Er hatte mir versprochen, ein paar Dinge zu erklären. Doch was, wenn ersich jetzt entschieden hatte, zu verschwinden? Ich hatte gesehen, wozu er in der Lage war, und angesichts von Judes unzutreffender Beschuldigung hätte Daniel bereits den Staat verlassen haben können, bevor ich auch nur anfing, nach ihm zu suchen.
Mom schob meine Hand in eine
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