Urbat: Die dunkle GabeRoman (German Edition)
braucht. Ich bin derjenige, der jeden Tag hier für sie da ist, doch kaum ist er ein paar Stunden zurück, glauben sie ihm und nicht mir. Dad und Grace tun so, als wäre er ein Held oder so was.« Seine Stimme klang scharf. »Wie kann Dad
ihm
bloß glauben, nach allem, was er getan hat.«
»Was denn?«, fragte April. »Was hat er getan?«
Jude seufzte.
Jeder Anflug von Schuldgefühl, den ich für das heimliche Lauschen an der Tür vielleicht verspürt hatte, wurde jetzt von dem Wunsch überwogen, die Antwort auf diese Frage zu hören – und von brennender Eifersucht, dass Jude womöglich April Dinge verriet, die er mir seit drei Jahren verweigerte.
Jude flüsterte etwas, und ich beugte mich näher zur Tür, um es zu verstehen.
»Grace!«, rief Mom die Treppe hinunter. »Vergiss das Fleckenspray nicht.«
Erschreckt sprang ich von der Tür zurück und ließ mein Bündel fallen. Judes Stimme brach ab, und hinter der Tür waren rumpelnde Geräusche zu hören. Ich hob meine Sachen wieder auf und hastete in den Waschraum.
Später am Abend
Als ich endlich nach draußen kam, war Daniel gegangen.
Er war weder vor noch hinter dem Haus. Dad ebenso wenig. Es waren nur knapp fünfzehn Minuten vergangen, seit ich sie aus dem Badezimmerfenster gesehen hatte, also entschloss ich mich, einen Wagen zu nehmen und Daniel in seinem Apartment aufzusuchen, ihn mit meinen Fragen zu löchern, bevor er die Stadt verlassen konnte – doch es hing kein Schlüssel am Haken. Dad parkte den Lieferwagen immer an der Pfarrkirche, und Jude musste immer noch die Schlüssel des Minivans bei sichhaben. Doch komischerweise stand auch der Corolla nicht in der Garage.
Ich fand mich mit dem Gedanken ab, dass jedes weitere Suchen wohl nutzlos sei, und entschied mich daher, Mom und Don Mooney beim Aufräumen im Esszimmer zu helfen.
Ich war nicht überrascht, dass Don noch da war. Wahrscheinlich würde er fragen, ob er nicht in Judes Zimmer ziehen könnte, wenn mein Bruder nächstes Jahr aufs College ging. Wie dem auch sei, Dons Vorstellung von Aufräumen beschränkte sich darauf, die Reste von den herumstehenden Tellern zu essen.
Ich langte nach dem halbleeren Glas, das vor ihm stand.
Don hörte auf, an seinem Pflaster herumzufummeln, und grinste mich breit an, wobei die Hälfte des Truthahns zwischen seinen Zähnen zu stecken schien. »Sie sehen heute Abend wirklich hübsch aus, Miss Grace.«
Ich spielte an meinen feuchten Locken und fragte mich, ob ich nun, da ich neulich bei meinem Vater für ihn eingetreten war, einen neuen Verehrer hatte. »Danke, Don«, murmelte ich und hob das Glas vom Tisch auf.
»Sie waren auch sehr mutig«, fügte er hinzu, »als Sie in den Wald gegangen sind, um Ihren Bruder zu suchen. Ich wünschte, ich wäre dabei gewesen. Ich hätte Sie vor dem Monster beschützt. Mein Großvater hat’s mir beigebracht. Er war ein echter Held.« Don rieb seinen verletzten Arm an seiner Brust.
Ich lächelte. Doch dann fiel mir plötzlich das Durcheinanderim Arbeitszimmer meines Vaters ein. Mom war mittlerweile zwar mit einer Menge Geschirr in der Küche verschwunden, doch vorsichtshalber senkte ich meine Stimme. »Don, als vorhin alle nach James gesucht haben, bist du da im Arbeitszimmer gewesen?«
Er blickte zur Seite. »Ich … ich … hab nur nach was gesucht. Ich wollte nicht so eine Unordnung machen. Alle kamen dann plötzlich rein, bevor ich wieder aufräumen konnte.« Er rutschte auf seinem Stuhl hin und her, so als ob er sich jeden Moment aus dem Staub machen wollte.
Ich verspürte große Erleichterung. »Schon in Ordnung, Don«, sagte ich und lächelte ihn an. »Ich werd’s niemandem verraten. Aber du solltest das Messer wirklich zurücklegen.«
Dons schwere Augenlider senkten sich. »Ja, Miss Grace.«
Mom kam wieder herein. Als sie mich mit meiner bandagierten Hand ihre Porzellanteller einsammeln sah, schickte sie mich ins Bett. Ich ging, ohne zu protestieren, obwohl ich nicht viel Hoffnung auf Schlaf hatte – oder viel Hoffnung auf irgendetwas anderes. Mom war sauer, weil ich Daniel eingeladen hatte; Dads Achterbahnfahrt verzweifelter Gefühle hatte die höchste Geschwindigkeit erreicht; mein älterer Bruder stand kurz vor einem Zusammenbruch; und Daniel war sehr wahrscheinlich verschwunden. Doch immerhin wusste ich, wo das Messer war. Und es war nicht von einem finsteren Eindringling gestohlen worden.
Komisch. Es war das erste Mal, dass ich Don als harmlos betrachtete.
Bis es im Haus dunkel und
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