Urbat: Die dunkle GabeRoman (German Edition)
Schüssel mit Desinfektionslösung. »Entspann dich für ’ne Minute.« Sie nahm eine Mullbinde und Pflaster aus ihrem Erste-Hilfe-Kasten.
Überall um meine Hand herum bildeten sich kleine Bläschen. Meine Gedanken drifteten ab, und vor meinem geistigen Auge sah ich noch mal die Dinge, die Daniel im Wald getan hatte – und wie es sich angefühlt hatte, mit ihm durch die Dunkelheit zu rennen. Ich bemerkte kaum, wie Mom schließlich meine Hand abtrocknete und sie mit einer Mullbinde umwickelte.
»So, das wär’s.« Sie klebte ein letztes Stück Pflaster auf und hielt dann für einen Moment meine Hand. »Gracie«, sagte sie, ohne mich anzusehen, »bitte lad diesen Jungen nicht wieder zu uns ein.« Sie nahm meine Hand, legte sie mitten auf den Tisch und machte sich daran, alles wieder in den Erste-Hilfe-Kasten zu packen.
Ich nickte, wenngleich sie es wohl nicht sehen konnte.
»Mom«, rief Charity von der Treppe. »James weigert sich aus der Badewanne zu kommen, wenn er nicht sofort seine Decke bekommt.«
»Ich hole sie«, sagte ich, froh über die vorübergehende Ablenkung.
Mom nickte. »Ich komme gleich rauf«, rief sie Charity zu.
Ich suchte zuerst in James’ Zimmer, doch Tante Carol schlief dort im Gästebett. Sie hatte sich mit Kopfschmerzen zurückgezogen, unmittelbar nachdem Doktor Connors verkündet hatte, dass James völlig gesund sei. Plötzlich fiel mir ein, dass James’ Decke wohl noch im Arbeitszimmer liegen musste.
Die Tür war angelehnt und ich schlüpfte hinein. James’ Reisebettchen lag immer noch auf der Seite. Ich stellte es wieder aufrecht hin und fand die Kuscheldecke. Ich hob sie auf und wollte gerade nach oben ins Bad gehen, als mich ein plötzlicher Gedanke durchfuhr: Wenn James wirklich ausgebüxst war, hätte er dann nicht seine Decke mitgenommen? Mein Bruder nahm diesen blauen gehäkelten Fetzen überall mit hin. Niemals ließ er ihn zurück.
Plötzlich kam mir Daniels Bemerkung wieder in den Sinn, als ich gesagt hatte, dass James doch unmöglich so weit in den Wald hatte gehen können: ›Allein sicher nicht.‹
War es ein Fehler gewesen, den Sheriff wegzuschicken? Es hatte so ausgesehen, als wäre die Polizei gerade erst aufgetaucht, als Daniel und ich mit James zurückkehrten. Hatten sie Fotos gemacht oder nach irgendwelchen Hinweisen gesucht? Jude hatte Daniel beschuldigt, aber das konnte nicht sein. Mein Vater hatte behauptet, dass es sich nur um einen unglücklichen Umstand gehandelt habe. Doch Daniel – hatte er nicht vor irgendwas Angst gehabt?
Ich sah mich im Arbeitszimmer um und nahm eigentlich zum ersten Mal die Dinge wirklich wahr. Dads Bücher und Papiere waren über den Fußboden verstreut.Seine Lampe war umgefallen, und die Schreibtischschublade stand offen. Das Zimmer sah aus, als hätte es ein kleines Erdbeben gegeben. War womöglich irgendjemand hier eingedrungen und hatte nach etwas gesucht? Doch wie hätten wir diesen Tumult überhören können, als wir im Esszimmer saßen? Vielleicht hatte Mom vor lauter Verzweiflung die Sachen hier herumgeworfen? Mehrere Bücher fehlten im Regal.
Das Regal!
Ich stürzte darauf zu und stellte mich auf die Zehenspitzen. Ich tastete auf dem obersten Regalbrett herum. Das schwarze Samtetui, worin Dons silberner Dolch gelegen hatte, war verschwunden.
Oben
Als Erstes kam mir der Gedanke, Dad vom durchwühlten Arbeitszimmer zu erzählen. Doch dann wurde mir klar, dass er ja mit Mom hier drin gewesen war. Hätte er die Unordnung nicht längst bemerken müssen? Und dennoch: Er war derjenige, der den Sheriff weggeschickt hatte. Vielleicht war es doch meine Mutter, die das Chaos verursacht hatte, und Dad wollte ihr die Befragung durch die Polizei ersparen. Bei ihrer Neigung zu zwanghaftem Verhalten wäre es wohl ziemlich unpassend gewesen, wenn Hilfssheriff Marsh in unseren Sachen herumgestöbert oder das Haus auf den Kopf gestellt hätte. Doch wieso fehlte das Messer? Wusste Dad überhaupt schondavon? Ich hatte ihm nicht erzählt, dass ich es woanders hingelegt hatte.
»Grace, wir brauchen die Decke«, brüllte Charity von oben.
Ich schloss die Tür zum Arbeitszimmer hinter mir und hetzte nach oben ins Bad. »Hier.« Ich reichte Mom die Decke.
»Decke!« rief James aus der Badewanne. Seifenblasen liefen an seinem kleinen Körper hinab.
»Endlich«, sagte Charity und hob ihn aus der Wanne. Dann wickelte sie ihn in ein Handtuch und reichte ihn an Mom weiter.
Er schmiegte die Decke an sein Gesicht. Mom hielt ihn an
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