Urbat: Die dunkle GabeRoman (German Edition)
Zeichnung in meinem Schoß. »Ich könnte dir dabei helfen.«
»Du tust es schon wieder.«
»Was?«
»Du weichst meinen Fragen aus, so wie alle anderen. Ich bin nicht so dumm oder zerbrechlich oder schwach, weißt du.«
»Ich weiß, Grace. Du bist alles andere als das«, sagte er und blies sich seine Ponyfransen aus der Stirn. »Ich weiche deinen Fragen nicht aus, ich habe nur einfach keine weiteren Antworten.« Mit seinen langen Fingern berührte er meinen Zeichenblock. »Willst du jetzt, dass ich dir bei deiner Aufgabe helfe oder nicht?«
»Nein, danke. Ich hatte schon beim letzten Mal genügend Ärger, als du mir mit einer Zeichnung
geholfen
hast.«
»So habe ich das nicht gemeint«, sagte er. »Ich werde jetzt jeden Tag nach der Schule im Kunstraum arbeiten. Ich könnte deine Gesellschaft brauchen, und du könntest ein bisschen dafür sorgen, dass Barlow mir nicht ständigauf den Fersen ist. Wir könnten heute anfangen. Ich könnte dir ein paar Techniken zeigen, die ich im Laufe der Jahre gelernt habe.«
»Das kannst du bestimmt«, erwiderte ich seufzend und begriff, dass unsere Unterhaltung über Monster vorbei war, zumindest vorläufig. »Aber diese Zeichnung hier ist echt völlig hoffnungslos.« Ich riss die Seite vom Block ab und wollte sie gerade zusammenknüllen.
»Nein, warte.« Daniel nahm mir das Blatt aus der Hand. Einen Augenblick betrachtete er es eingehend. »Wozu zeichnest du das?«, fragte er und deutete auf mein Skelett eines Baums.
Ich zuckte die Schultern. »Weil Barlow möchte, dass wir etwas zeichnen, was uns an unsere Kindheit erinnert. Das ist alles, was mir eingefallen ist.«
»Aber warum?«, fragte Daniel. »Was ist an diesem Baum das Besondere, das du erfassen willst? Was lässt er dich fühlen? Was lässt er dich wollen?«
Ich blickte auf den echten Baum im Garten. Alle möglichen Erinnerungen schossen mir durch den Kopf. ›Du‹, dachte ich. ›Der Baum lässt mich dich wollen.‹ Ich sah auf meinen Zeichenblock hinunter und hoffte, dass Gedankenlesen nicht auch noch eine von Daniels verborgenen Dämonenjäger-Eigenschaften war.
»Erinnerst du dich, wie wir früher immer den Baum hochgeflitzt sind? Weißt du noch, wer immer am schnellsten ganz oben war?«, fragte ich. »Und als wir dann da oben hockten, konnten wir das ganze Viertel übersehen. Es war so ein Gefühl, als hätten wir nur ein kleines bisschenweiter die schmalen Äste raufklettern und uns vorstrecken müssen, um die Wolken mit unseren Fingern berühren zu können.« Ich rollte den Kohlestift zwischen meinen Handflächen. »Ich glaube, das ist es, was ich gerne noch mal fühlen möchte.«
»Warum sind wir dann noch hier unten?« Daniel nahm meinen Stift und schob sich den Block unter den Arm. »Los, komm!« Er zog mich von der Schaukel und scheuchte mich von der Veranda zum Stamm des Walnussbaums. Bevor ich mich versah, hatte er seine Schuhe weggekickt und war auf halbem Weg den Baum hinauf. »Kommst du?«, trieb er mich von seinem Ast aus an.
»Du bist verrückt«, rief ich zu ihm hoch.
»Du wirst noch verlieren!« Er sprang von seinem Ast auf einen höher gelegenen.
»Du mogelst!«, rief ich zurück und packte den untersten Ast, um mich hinaufzuschwingen. Meine steifen Beine protestierten. Ich griff nach einem anderen Ast und kletterte ein paar Zentimeter höher. Der Baum war weit weniger beängstigend als die Schlucht, aber dennoch deutlich schwieriger als der Torpfosten im Garten der Engel. Meine verletzte Hand machte die Sache nicht einfacher.
»Mach schneller, du lahme Ente!«, rief mir Daniel zu, als wären wir plötzlich wieder Kinder. Er war jetzt höher in den Ästen, als ich je geklettert war.
»Lass es lieber, sonst brichst du dir noch den Hals.«
Meine Füße schrammten über die aschfahle Borke, als ich mich den Baum hinaufstemmte und weiterkletterte.Ich war einen halben Meter unter ihm, als sich die Äste plötzlich zu dünn und schwankend anfühlten, um mich tragen zu können. Ich streckte mich, um ihn zu erreichen – um den Himmel zu erreichen, so wie ich es als Kind immer versucht hatte. Ich rutschte jedoch ab und klammerte mich an den nächstbesten Zweig. Daniel schwang sich zu mir herunter. Der Baum erzitterte, als er ein Stückchen tiefer landete. Ich klammerte mich fester an meinen Zweig. Daniel verzog nicht einmal das Gesicht. Er saß auf einer Astgabel, seine Füße baumelten frei herunter.
»Und, was siehst du jetzt?«, fragte er.
Ich zwang mich, nach unten zu sehen. Ich sah
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