Urbat: Die dunkle GabeRoman (German Edition)
von hier aus immer noch in dein Zimmer gucken.« Er lachte etwas verlegen.
»Was?!«
Es stimmte, ich konnte in der Tat direkt durch mein Schlafzimmerfenster sehen. Es war jetzt zwar Nachmittag, und die Scheibe spiegelte das Sonnenlicht wider, doch wenn es Nacht gewesen wäre und das Licht gebrannt hätte, hätte ich wirklich alles sehen können. »Du Perversling!«
»Nur ein Scherz«, gab er zurück. »Ich habe zwar ofthier oben gesessen und deine Familie beobachtet, aber ich habe nie …«
Genau in diesem Moment bewegte sich etwas – oder jemand – hinter meinem Fenster. Ich beugte mich vor und balancierte auf einem schmalen Ast, um erkennen zu können, wer da in meinem Zimmer war.
»Sei vorsichtig«, sagte Daniel.
Mein Fuß rutschte ab, und der Zweig, an dem ich mich festhielt, brach. Ich schrie.
Daniel hielt mich an den Hüften fest und wirbelte mich herum, sodass ich plötzlich auf dem dickeren Teil des Astes war, und er sich jetzt dort befand, wo ich vorher gestanden hatte. Er drückte mich dicht an sich.
Zitterte ich gerade so, oder war er es?
Daniel legte mir sein Kinn auf den Kopf. Da standen wir also, auf unsicheren Beinen und in einer solchen Höhe schwebend. Einzig Daniel hielt mich vom Herunterfallen ab, und er unternahm nicht einmal den Versuch, unsere Lage zu stabilisieren; er brauchte es nicht.
»Du solltest damit aufhören«, kommentierte er meinen Beinahe-Absturz. »Ich kann mich gar nicht erinnern, dass du so ein Tollpatsch bist.«
Ich auch nicht – zumindest was die Zeit betraf, bevor er zurückgekehrt war. »Du bist doch derjenige, der mich dauernd dazu bringt, auf irgendwas herumzuklettern«, maulte ich und schlug ihm vor die Brust. »Wer hätte ahnen können, dass es so gefährlich ist, mit dir rumzuhängen.«
»Du hast keine Ahnung«, murmelte er in mein Haar.
Ich blickte auf meine Hand, die auf seiner festen Brust lag. »Aber du bist es wert.«
»Gracie«, flüsterte er und hob mein Kinn an, sodass ich zu ihm aufsah. Mit beiden Händen umfasste er mein Gesicht. Seine Augen strahlten mit der Sonne um die Wette. Er neigte mir sein Gesicht zu und fuhr mit der Nasenspitze über meine Augenbrauen.
Alle Ängste und Befürchtungen im Hinblick auf Monster, alle Sorgen über meinen älteren Bruder, alle Fragen in Bezug auf Daniel schmolzen dahin, als ich mich auf die Zehenspitzen stellte und mich ihm entgegenreckte.
»Grace, Daniel!«, rief plötzlich jemand.
Daniel nahm die Hände von meinem Gesicht und trat einen Schritt zurück.
Enttäuschung vermischte sich mit einer Woge meiner wiedererwachten Zweifel. Ich seufzte und sah zum Haus hinüber. Für den Bruchteil einer Sekunde sah ich, wie Jude uns von meinem Fenster aus beobachtete. Doch er hatte uns nicht gerufen. Es war mein Vater.
Er stand unten neben dem Baumstamm und hatte noch dieselben Sachen wie gestern an. Es sah aus, als hätte er eine kleine Holzkiste unter den Arm geklemmt. Der Corolla stand in der Auffahrt.
Daniel trat so weit wie möglich von mir weg.
»Oh, hallo Dad!«, rief ich und winkte ihm zaghaft zu.
Mein Vater bückte sich und hob meinen Zeichenblock auf. Er musste heruntergefallen sein, als Daniel mich aufgefangen hatte. Dad blickte auf die Zeichnung und sah dann zu uns hoch.
»Wir arbeiten an einer Hausaufgabe für die Schule«, sagte ich laut.
Schützend hielt Dad seine Hand gegen die Sonne. »Kommt jetzt runter«, sagte er und klang dabei so müde, wie ich ihn noch nie zuvor gehört hatte.
»Bist du in Ordnung?«, fragte ich.
Er blickte Daniel an. »Wir müssen uns unterhalten.«
Daniel nickte. Dann wandte er sich zu mir und sagte leise: »Wir treffen uns nach dem Abendessen auf der Veranda. Dann fahren wir zum Laden und kaufen Leinöl und Firnis.«
»Können wir hinterher eine kleine Spritztour machen?«
Er streichelte meine Wange. »Alles, was du möchtest.«
KAPITEL 15
Das verirrte Schaf
Später Nachmittag
»Grace!«, brüllte Charity aus dem vorderen Wohnzimmer.
Von der Küche aus betrat ich den Raum. Sie lümmelte auf der Couch und sah fern.
»Was?«
»Telefon.« Sie wedelte mit dem drahtlosen Ding über ihrem Kopf herum.
Ich nahm ihr das Telefon ab und wollte es eben ans Ohr führen, als ich auf dem Fernsehbildschirm zwei Wölfe bemerkte. Sie nagten an ein paar blutigen, fleischigen Knochen.
Ich deckte die Sprechmuschel ab. »Wie eklig. Was guckst du denn da?«
»Für die Schule«, erwiderte sie und drehte den Ton etwas leiser. »Ich schreibe etwas über Wölfe. Wusstest
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