Urbat: Die dunkle GabeRoman (German Edition)
»Aber ich will das nicht mehr sein.«
»Wieso?«, fragte ich und musste den Impuls unterdrücken, sein Gesicht zu berühren. »Du bist doch ganz phantastisch. Was du tun kannst, ist nicht von dieser Welt. Du bist ein Held.«
»An mir ist nichts Heroisches, Grace. Das solltest du wissen. Dein Bruder weiß es. Deswegen hasst er mich ja.« Seine Hände zitterten wie früher, wenn er als Kind gewusst hatte, dass er in Schwierigkeiten steckte. »Was ich bin … ist der Grund dafür, weshalb mich niemand jemals lieben kann.«
Mein Herz schrumpfte zusammen. Ich hasste es, ihn so zu sehen. Ich blickte zu seinem alten Haus. Es sah jetzt viel besser aus. Die neuen Besitzer hatten eine Veranda angebaut, Fensterläden angebracht und es in einer hübschenTürkisfarbe angestrichen. »Das stimmt doch gar nicht. Deine Mutter liebt …«
»Ich habe keine Mutter.«
»Wie bitte?« Ich sah ihn an.
»Diese
Frau
ist nicht meine Mutter«, sagte er durch zusammengebissene Zähne. Sein Kiefer versteifte sich, die Adern an seinem Hals schwollen an. »Selbst sie hat mich nicht gewollt. Sie hat
ihn
mir vorgezogen.«
»Wen?«
»Meinen Vater.«
»Ich dachte, er hätte die Stadt verlassen, als dich damals der Sheriff mitgenommen hat.«
Daniel schnaubte. »Er ist nicht lange weggeblieben. Nachdem ich mit meiner Mutter nach Oak Park gezogen war, tauchte er sofort wieder auf. Er hat sie angefleht, ihn wieder aufzunehmen. Zuerst hat sie gesagt, er solle Leine ziehen, weil es ihm nicht erlaubt war, in meiner Nähe zu sein. Doch er schwor ihr, dass er sie liebe, und sie glaubte ihm. Er sagte,
ich
würde ihn verrückt machen. Ich würde ihn all diese Dinge tun lassen.« Daniel strich sich mit der Hand über den Kopf, so als ob er einen verbleibenden Schmerz seines gebrochenen Schädels noch spüren könnte. »Eines Abends hörte ich, wie sie am Telefon mit meinem Sozialarbeiter sprach. Mom sagte ihm, er solle mich abholen kommen, da sie mit meinem Dad weggehen wollte. Sie sagte, dass sie mich nicht mehr haben wolle und dass sie ohnehin nicht mit mir zurechtkäme.« Daniel wiegte sich vor und zurück und schlug mit den Schultern gegen den Baumstamm.
»Daniel, das wusste ich nicht.« Ich wollte ihn beruhigen, legte meine Hand auf seine Brust und schmiegte meine Finger um seinen Nacken. »Was hast du dann gemacht?«
»Ich bin weggelaufen. Ich wollte nicht wieder in irgendeine Pflegefamilie.«
»Aber du hättest doch zu uns kommen können.«
»Nein, das konnte ich nicht«, sagte er. »Dieses Ungeheuer – mein Vater – war so grausam, wie so ein Ungeheuer eben ist, und meine eigene Mutter hat ihn mir vorgezogen. Ihr hättet mich auch nicht haben wollen. Niemand hätte mich gewollt.« Er zuckte zusammen und zitterte jetzt mehr als zuvor. »Niemand wird mich je wollen.«
»Aber ich will dich, Daniel.« Ich fuhr mit den Fingern durch sein Haar. »Ich wollte dich schon immer.«
Ich musste ihm zeigen, dass ich ihn brauchte. Irgendetwas musste ich tun. Ich drehte seinen Kopf zu mir herüber und berührte seine Lippen mit meinen. Er war wie ein Stein, kalt und steif, und ich wollte ihn wärmen. Ich bewegte meine Lippen und versuchte ihn zu küssen, doch sein Mund blieb starr und er reagierte nicht. Ich presste meine Lippen fester auf seine.
Dann öffneten sich seine Lippen, schmolzen, wurden ganz weich. Unter der Decke legte er mir den Arm um die Taille und zog mich auf seinen Schoß. Seine Hand strich über meinen Rücken und meine Schulterblätter. Die Wolldecke fiel herunter. Dann war Daniels Hand plötzlich in meinem Haar und wiegte meinen Kopf sanfthin und her. Sein Mund wurde heiß und leidenschaftlich, und er drückte mich fest gegen seine Brust, als könne er gar nicht nahe genug kommen.
Ich hatte mir diesen Augenblick oft vorgestellt, als ich jünger war. Ein paar unbeholfene Küsse auf der Türschwelle hatte ich einigen Jungs schon gegeben. Doch diese Leidenschaft in Daniels Kuss – sein Mund strebte nach meinem, als ob er hier eine Antwort suche, die sein Leben retten könne – war viel mehr, als ich mir je vorgestellt hatte. Um uns herum schmolzen die Schatten und die winterliche Kälte dahin. Noch nie hatte ich mich so wohlig warm gefühlt. Ich fuhr mit der Hand über seine Schulter, dann seinen Nacken. Meine Finger zupften am Lederband seines Anhängers. Ich ließ meinen Kopf zurücksinken, als er seine Lippen an meine Kehle presste. Mein Herz gab den Takt der Wahrheit vor, die ich zu leugnen versucht hatte, der Worte, die ich
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