Urbat: Die dunkle GabeRoman (German Edition)
Kästchen auf. »Dann liegt es nicht mehr in meinen Händen.« Er stellte das Kästchen genau vor mich; irgendetwas klapperte darin. »Ich denke, du musst nun die Antwort für dich selbst herausfinden. Ich bin da, wenn es soweit ist … aber du musst deine eigene Wahl treffen.«
Später Nachmittag
Ich saß mit untergeschlagenen Beinen auf dem Bett und hielt das Kästchen zwischen meinen Knien. Ich konnte kaum glauben, dass sich alle Antworten – die letzten Puzzlestückchen – in so einem kleinen Kästchen befinden sollten. Konnte ich wirklich auf diese Möglichkeit hoffen? Vielleicht enthielt es aber auch nur noch mehr Enttäuschungen. Vielleicht gab es überhaupt keine Heilung. Das hätte erklärt, wieso mein Vater so erschöpft und müde wirkte. Vielleicht dachte er, ich müsse es für mich selbst herausfinden … um mich dann ebenso damit abzufinden wie er.
Doch er hatte gesagt, dass ich eine Wahl treffen müsste. Und ohne Wissen, ohne Antworten ließ sich das nicht tun.
›Warum kann ich dann nicht einfach das Kästchen öffnen?‹
Die Wahrheit war, dass ich Angst vor den Antwortenhatte. Ignoranz ist vielleicht kein Segen, doch sie war wohl dem Schmerz vorzuziehen, der aus den bereits gefundenen Antworten resultierte.
Ich starrte das Kästchen an, bis sich meine Beine in ihrer Position verkrampften. Meine Finger zitterten, als ich den angelaufenen Goldverschluss berührte. Ich schob ihn zur Seite und öffnete den Deckel. In dem Kästchen lag ein Buch, das älter und abgegriffener als alles aussah, was ich je in Dads Büro gesehen hatte. Der Buchdeckel hatte eine verblichene saphirblaue Farbe und war mit den gleichen goldenen Sonnen und Monden verziert wie das Kästchen. Vorsichtig strich ich mit den Fingern darüber.
Als ich das Buch herausnahm, befürchtete ich schon, es könne auseinanderfallen.
Zwischen den Buchseiten ragten mehrere Papierstreifen hervor. Hatte Dad bestimmte Stellen markiert, um mir das Lesen zu erleichtern? Ich blätterte durch die filigranen, stoffähnlichen Seiten bis zum ersten Lesezeichen. Die Seite sah aus wie ein von Hand geschriebener Brief, oder eine Kopie davon, in verblichener brauner Tinte. Dad hatte gesagt, es sei eine Übersetzung und nicht das Original. Ich wünschte mir plötzlich, neben dem Malunterricht auch Mrs Millers Kalligraphie-Klasse belegt zu haben, als ich versuchte, die blassen Schriftzeichen zu entziffern.
Meine liebste Katherine,
die freudige Nachricht Deiner Vermählung mit Simon Saint Moon hätte mich zu keiner besseren Zeit erreichen
können. Mein Feldlager wurde von Verzweiflung überwältigt, und viele der Fußsoldaten und Knappen verbergen sich vor dem Heulen der Wölfe, die unser Lager bei Nacht umstellen. Sie glauben, daß wir auf Gottes Geheiß wegen unserer Sünden von ihnen verschlungen werden.
Mein Knappe Alexius behauptet, daß die Wölfe gar keine gewöhnlichen Tiere sind, sondern die Hunde des Himmels aus den hiesigen Überlieferungen. Er berichtet mir, dass es Männer sind, die einst von Gott gesegnet wurden und für ihn kämpften, doch durch den Teufel von ihrem Streben abgebracht wurden und nun verflucht sind, als wilde Kreaturen über die Erde zu streifen.
Ach, kleine Schwester, Dir würde mein lieber Alexius gefallen. Ich bereue nicht, ihn nach den Feuern als meinen Knappen gewählt zu haben. Viele andere der Jungen hier sind längst nicht so begabt. Ich bete, daß wir diese Schlacht beenden und weiter ins Heilige Land ziehen. Ich habe mein Dorf nicht verlassen, um an der Tötung anderer Christen beteiligt zu sein. Vielleicht versucht ja der Teufel auch, uns von unserem Streben abzubringen.
Vater Miguel versichert uns der Richtigkeit unserer Mission und sagt, dass Gott uns beisteht in unserem Kampf gegen die griechischen Verräter …
Ein leises Klopfen war an meiner Tür zu hören. Ich versteckte das Buch und das Kästchen unter der Bettdecke. »Herein«, sagte ich in Erwartung von Charity und dem Abendessen.
»Hey.« Jude lehnte im Türrahmen. Er hielt einen dunkelgrünenAktenordner in den Händen. »Für dich«, sagte er, trat auf mein Bett zu und reichte mir den Ordner.
»Was ist das?« Mit dem Fuß schob ich das Buch noch weiter unter meine Decke.
»Deine ganzen Hausaufgaben«, erwiderte er und lächelte schwach. »Die Noten aus dem ersten Jahrgang sind für eine Aufnahme am College ganz entscheidend. Ich wollte nicht, dass du da hinterherhinkst. Ich habe April überredet, dass sie dir ihre Notizen aus
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