Urbat: Die dunkle GabeRoman (German Edition)
atmete dreimal tief durch. Daniel würde diesen Leuten schon nichts antun, wenn er in seiner normalen Verfassung war. Es musste mit Sicherheit eine andere Erklärung geben – aber es war nicht an mir, diese herauszufinden. Von jetzt an konnte jemand anders Dr. Watson spielen.
Ich öffnete die Tür und ging schnurstracks auf Barlows Schreibtisch zu. Ich legte ihm meine drei Baumskizzen auf den Tisch und lief weiter in den hinteren Teil des Raums, um meinen Werkzeugbehälter zu holen, ohne auch nur seinen Kommentar abzuwarten. Lynn und Jenny hörten auf zu sprechen, als ich näher kam. Lynn sah mich von der Seite an und sagte dann hinter vorgehaltener Hand etwas zu Jenny. Ich ignorierte sie und nahm meine Wasserfarben aus dem Behälter. Ich konnte Daniels Anwesenheit ein paar Meter von mir entfernt spüren; trotz der Lösungsmittel und dem Kreidestaub in der Luft konnte ich seinen erdigen Mandelduft riechen, doch ich brachte es nicht fertig, ihn anzusehen. Ich kramte zusammen, was ich sonst noch brauchte, und begab mich zu April an unseren Tisch.
»Ich hab dich bestimmt zehn Mal angerufen«, sagte April, ohne mich anzublicken, während sie ein paar scharfe Linien in ihr Skizzenbuch zeichnete. »Du hättest mir ja zumindest mal eine E-Mail schicken können oder so was.«
»Du hast völlig Recht«, erwiderte ich, öffnete meine Schachtel mit Pastellkreiden und ließ die Stücke auf denTisch fallen. Ich hatte schon vergessen, dass die meisten zerbrochen waren. »Es tut mir leid.«
»Dann hast du es also überwunden?«, fragte April und deutete mit dem Kopf auf Daniel.
»Ja.« Ich suchte mir ein rotes Kreidestückchen heraus. Es war zu klein, um vernünftig damit arbeiten zu können. »Ich glaube schon.«
»Gut«, sagte April und legte ihren Kohlestift zur Seite. »Jude sagt, dass Daniel einen schlechten Einfluss auf dich hat.«
»Und was hat Jude in letzter Zeit sonst noch so gesagt?«, fragte ich.
Sie seufzte. »Er hat sich furchtbar aufgeregt, dass euer Dad versucht, ihn mit Daniel zu versöhnen. Dein Vater sagt, dass Jude alles vergeben und vergessen und sich darüber freuen sollte, dass Daniel zurück ist.« April schüttelte den Kopf. »Ich verstehe das nicht. Ich meine, Jude ist doch sein
richtiger
Sohn. Wozu will er Daniel überhaupt hier haben?«
»Ich weiß nicht«, gab ich murmelnd zurück. Meine Gedanken wanderten zu diesem Buch in meinem Zimmer. »Hat Jude sonst noch was gesagt?«, fragte ich und war unsicher, wie viel April eigentlich über diese ganze Geschichte wusste.
April zuckte mit den Schultern. »Er hat mich morgen Abend zur Monet-Ausstellung in der Universität eingeladen.«
»Oh, das ist toll.« Ich betrachtete einen weiteren Kreidestummel. Er war genauso nutzlos wie der erste.
»Ja, aber Mom will mich nicht gehen lassen, weil es in der Innenstadt ist. Es scheint fast, als ob sie sich Sorgen macht, mir könnte irgend so etwas wie Jessica Day zustoßen.« April rümpfte die Nase. »Ich denke, wie werden uns einfach einen netten Fernsehabend machen. Komm doch auch, wenn du magst.«
»Vielen Dank, aber nein.« Ich hatte Jude und April schon genug herumkuscheln sehen, dass es für den Rest meines Lebens reichte.
April nahm die Pastellkreiden aus ihrem Werkzeugbehälter und schob sie zu mir herüber. »Wenn du willst, kannst du meine borgen.« Sie lächelte zögernd. »Ich bin wirklich froh, dass du wieder okay bist.«
»Danke«, sagte ich. Dann sah ich zu Daniel. Er hatte sich halb von uns abgewandt, doch in seinem Gesichtsausdruck meinte ich lesen zu können, dass er unserer kompletten Unterhaltung quer durch den Raum gelauscht hatte.
Dadurch fühlte ich mich erst recht nicht besser.
Später am Tag
Daniel hatte mich gebeten, die Mittagspause und die Zeit nach dem Unterricht mit ihm und Barlow zu verbringen. Ich zweifelte daran, dass das Angebot noch immer stand oder er überhaupt mit meinem Auftauchen rechnete, und als die Klingel zur Mittagspause läutete, lehnte ich Aprils Vorschlag ab, sie und Jude zum Café zu begleiten, und begab mich zur Bibliothek. Dort blieb ich, bis es an derZeit war, wieder in den Unterricht zu gehen. Als die fünfte Stunde vorbei war, machte ich mich so schnell wie möglich auf den Weg in die nächste Klasse.
»Grace, warte mal!«, rief Pete Bradshaw, als ich mich meinem Spind näherte.
»Hallo Pete.« Ich verlangsamte mein Tempo.
»Geht es dir gut?«, fragte er. »Ich hab dich dreimal gerufen, bevor du mich gehört hast.«
»Oh, tut mir leid.
Weitere Kostenlose Bücher