Urbat: Die dunkle GabeRoman (German Edition)
dem Englischunterricht kopiert. Aber Mrs Howell sagt, dass du ihr noch eine von den Eltern unterzeichnete Arbeit schuldest.«
Mist. Das hatte ich total vergessen.
»Ich habe ihr gesagt, dass du dich in letzter Zeit nicht so wohlgefühlt hast, und konnte sie überreden, dass du die Prüfung wiederholen darfst. Sie meint, du kannst es nach der Schule machen, wenn es dir besser geht.«
»Wow. Danke schön. Das ist wirklich …« Typisch Jude. Ich wusste gar nicht, wieso ich so erstaunt war. So etwas war doch für meinen Bruder ganz normal. Das war genau das, was ihn ausmachte. Aber ich hatte gedacht, dass er nie wieder mit mir reden wollte. Nicht nach dem, was ich getan hatte. »Ich bin dir wirklich dankbar.«
Jude nickte. »Wenn du soweit bist, kann ich nach der Schule auf dich warten, während du deine Prüfung machst. Dann brauchst du hinterher nicht allein nach Hause zu gehen.« Er ging zur Tür, blieb stehen und blickte mich dann wieder an. »Zeit, aus dem Bett zu kommen, Gracie.«
› Er weiß es.
Ich kenne die Wahrheit über das, was damals mit ihm geschehen ist … und er weiß es.‹
»Es tut mir leid, dass ich nicht auf dich gehört habe«, sagte ich leise.
Jude nickte zaghaft und schloss die Tür hinter sich.
Nachdem ich ihn den Flur hinuntergehen hörte, zog ich das Buch und das Kästchen wieder unter meiner Decke hervor. Ich klappte den Deckel über Katherine und ihrem Bruder zu und verschloss das Kästchen in meiner Schreibtischschublade. Ich konnte nicht weiterlesen. Ich musste die ganze Sache vergessen. Jude entwickelte sich weiter, sah nach vorn und machte andere Dinge, und das musste ich auch.
KAPITEL 19
Die Wahl
Donnerstagmorgen
Als Jude und ich in eisiger Kälte die wenigen Blocks zur Schule fuhren, wurde mir klar, dass es zwar ein gegenseitiges Einverständnis zwischen uns gab, wir aber dennoch nicht darüber reden würden.
Einige Dinge ändern sich nie.
Vielleicht war es besser so.
Jude brachte mich zu meinem Spind und zog dann los, um April noch vor der ersten Stunde zu treffen. Ich versuchte, mich so natürlich zu verhalten, als ob es sich um einen ganz gewöhnlichen Tag handelte und ich ein ganz gewöhnliches Mädchen sei. Aber es war ganz schön schwer, so zu tun, als sei ich normal.
Die ›normalen‹ Leute quatschten und tratschten miteinander, hauptsächlich über die seltsamen Dinge, die am Wochenende passiert waren. Ich hatte gehofft, dass die Gerüchteküche während meiner dreitätigen Abwesenheit von der Schule abgekühlt war, doch es ging immer noch hoch her. Manche sprachen darüber, dass Jenny Wilson mitten in ihrer Sackgasse ihre verstümmelte Katze gefunden hatte. Andere redeten über Daniel, der James im Wald gerettet hatte, und flüsterten über Judes Beschuldigungen. Und ich hatte das eindeutige Gefühl, dass die Leute auch über mich redeten – zumindest mehr als sonst.
Die ›normalen‹ Leute gingen an den Plakaten vorbei, die überall in der Schule hingen und Jessica Days Klassenfoto von der Central High zeigten. Sie betrachteten ihr langes blondes Haar und ihre großen Rehaugen, schüttelten den Kopf und sagten: »Oh, wie schrecklich.« Aber die ›normalen‹ Leute hatten keine Ahnung, in welcher Gefahr sie sich tatsächlich befinden konnte. Sie wussten nicht, welche Schrecken es da draußen in der Welt wirklich gab. Sie ahnten nicht, dass sich ein Werwolf in meinem Kunst-Leistungskurs befand.
Wie hätten sie wohl reagiert, wenn sie die Wahrheit gekannt hätten? Hätten sie Daniel beschuldigt, das neue Markham Street Monster zu sein? Hätten sie ihn für alle bösen Dinge verantwortlich gemacht, die in letzter Zeit passiert waren?
Ich blieb auf halbem Weg in die vierte Stunde und meinen Kunstunterricht stehen. Glaubte
ich
irgendetwas davon? Ich redete mir ein, dass es nicht wahr sein könnte. Daniel hatte diesen Anhänger, und selbst wenn er zum Wolfsmodus überging, wäre er in der Lage, das Monster davon abzuhalten, anderen Menschen weh zu tun. Oder etwa nicht? Es musste eine andere Erklärung geben.
Vielleicht funktionierte der Anhänger nicht so gut, wie mein Dad glaubte. Oder er funktionierte doch, und Daniel war bei klarem Verstand, wenn er diese Dinge tat …
Noch lange, nachdem es zur Stunde geklingelt hatte, stand ich draußen vor dem Klassenzimmer. Ich wusste, dass Daniel da drin war. Genügend Leute hatten über ihngesprochen, sodass ich wusste, dass er zum Unterricht erschienen war. Ich wünschte, er wäre nicht gekommen. Ich
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