Urbat: Gefährliche Gnade (German Edition)
den Wolf zu übertönen. Ich habe ihn nicht gebeten, dort hinzugehen. Er wollte es unbedingt. Ich hätte dort im Korridor sein müssen. Er hätte nicht gehen sollen.
Es ist sein Fehler!
Gabriel schrie auf, als hätte ihn ein starker Schmerz durchzuckt. Er zog seine Hände weg, und die intensive Kraft verschwand so abrupt und deutlich spürbar, dass ich vor lauter Schreck die Augen aufriss. Gabriel taumelte rückwärts von der Bettkante weg und hatte das Gesicht in den Händen verborgen.
»Bist du in Ordnung?«, fragte ich zwischen keuchenden Atemzügen.
Gabriel nahm die Hände vom Gesicht. Die Narbe auf seiner Wange sah jetzt aus wie eine frische Wunde. Blut quoll aus ihr hervor. Die schon verblassten Blutergüsse an seinem Kinn sahen wieder wie neu aus, so als hätte ihm jemand gerade ein paar Mal mit einem Hammer ins Gesicht geschlagen. Er blickte auf seine blutverschmierten Finger. »Ich muss das abwaschen«, sagte er und schwankte auf die Tür zu. »Es tut mir leid. Ich dachte, du wärst schon so weit.«
Noch bevor ich fragen konnte, ob er meine Hilfe brauchte, war er durch die Schiebetür hinausgegangen.
Das warst du, sagte der Wolf in meinem Kopf. Ich sah auf meinen Vater hinunter. Hatte ich ihm womöglich noch mehr Schmerzen zugefügt? Meine Befürchtung bestätigte sich ein paar Sekunden später, als einer der Monitoren plötzlich einen hektischen Piepton von sich gab.
Zwei Krankenschwestern stürzten ins Zimmer. Ich war wie betäubt und völlig unfähig zu einer Reaktion, als sie mich zur Seite schoben, um zu seinem Bett zu kommen.
Noch eine Stunde später
Ich wartete draußen vor dem kleinen Raum und spähte durch die Öffnung im Vorhang hinein, bis einer der Ärzte irgendetwas mit Dad machte und dieses schreckliche Piepen des Monitors schließlich aufhörte. Eine der Schwestern sagte mir, ich könne kurz noch einmal zu meinem Vater hinein, müsse aber danach nach Hause gehen. Ich kannte die strengen Regeln noch vom letzten Jahr, als Daniel hier in einem dieser Krankenhausbetten gefangen gewesen war. Obwohl die Intensivstation keine geregelten Besuchszeiten hatte, durfte ich nicht über Nacht hierbleiben, weil ich noch nicht volljährig war. Ich nickte und sagte der Schwester, dass ich bald gehen würde, aber es dauerte dennoch ein paar Minuten, bis ich mich von Dad losreißen konnte.
Ich wollte gerne seine Hand drücken, um ihn wissen zu lassen, dass ich jetzt aufbrach, zögerte jedoch, weil ich Angst hatte, dass meine Berührung ihm vielleicht wieder Schmerzen bereitete. Stattdessen hinterließ ich, für den Fall, dass er aufwachte und ich nicht da war, eine Nachricht auf dem Tischchen neben dem Bett. Ich wollte nicht, dass er sich so verlassen fühlte wie ich in diesem Moment.
Ich verließ die Intensivstation und ging zum Fahrstuhl, der mich hinunter zum Eingang tragen würde, sodass ich das Krankenhaus verlassen könnte. Doch ich blieb vor den geschlossenen Aufzugtüren stehen, starrte auf die Aufwärts - und Abwärts pfeile – und wusste nicht, auf welchen ich drücken sollte. Abwärts würde mich zum Ausgang bringen. Aufwärts zur psychiatrischen Abteilung. Zu meiner Mom.
Als ich mit Dad vom Notarztwagen in die Notaufnahme gebracht worden war, hatte mich jemand gefragt, wo er meine Mutter finden könnte. Als ich ihm gesagt hatte, wo sie sei, hatte er erklärt, dass er zunächst Dr. Connors anrufen wolle, damit er entscheiden könne, ob meine Mutter über die Geschehnisse informiert werden sollte.
Die Tatsache, dass sie nicht heruntergekommen war, um Dad zu besuchen, verhieß nichts Gutes.
Wenn Dad bei Bewusstsein gewesen wäre, dann hätte er mich gebeten, sie zu besuchen. Genauso wie er gewollt hätte, dass ich Jude besuche. Seit meiner Rückkehr aus dem Lagerhaus hatte ich beide noch nicht gesehen, und Dad hätte bestimmt gesagt, dass es mir überhaupt nicht ähnlich sehe, wenn ich sie nicht besuchte. Dasselbe hatte April gesagt.
Während der letzten paar Jahre war mein Vater derjenige gewesen, zu dem ich immer hatte gehen können. Allerdings hatte es auch eine Zeit gegeben, in der meine Mutter der Fels in der Brandung gewesen war. Damals, als ich noch Zöpfe trug und mich von Erdnussbutter-Honig-Sandwiches mit abgeschnittener Kruste ernährte. Damals, als ich noch dachte, dass ein mütterlicher Kuss alle Wunden heilen könnte, unabhängig davon, ob sie körperlicher oder seelischer Natur waren. Ich sehnte mich zurück nach diesen Tagen, an denen ich meinen Kopf an ihre Schulter
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