Urbat: Gefährliche Gnade (German Edition)
blickten weitaus ernster. »Wie geht’s Ihrem Vater? Ich hab mich vorhin mal übers Telefon nach ihm erkundigt. Leider hatte ich noch keine Gelegenheit, ihn persönlich zu besuchen.«
»Sein Zustand ist unverändert.«
»Verstehe«, sagte er und räusperte sich.
»Hat sie darum gebeten, ihn sehen zu können?«
»Nein. Ich hatte es gehofft …« Er räusperte sich noch einmal und befestigte einen Kugelschreiber an seinem Klemmbrett. »Kommen Sie mit mir, Grace.«
Ich folgte ihm ein paar Schritte, bis mir klar wurde, dass wir uns nicht dem Besuchszimmer, sondern den Patientenräumen näherten. Noch immer wusste ich nicht, ob ich zu einem Besuch schon bereit wäre. Dr. Connors blickte sich erwartungsvoll nach mir um. Ich schluckte meine Befürchtungen hinunter und lief weiter.
»Normalerweise würden wir Ihnen eines unserer Besuchszimmer zur Verfügung stellen, aber in diesem Fall … ist es wohl besser, wenn Sie zu ihr hineingehen.«
»Was …« Ich biss mir auf die Lippe. »Was genau fehlt ihr eigentlich?«
Mom hatte immer schon eine Neigung zu Zwangsstörungen gehabt, die sich verstärkten, wenn die Dinge zu Hause kompliziert wurden. Je schlimmer die Dinge waren, desto mehr musste sie alles völlig perfekt erscheinen lassen. Aber nachdem Jude weggegangen war, hatte sie es nicht mehr unter Kontrolle bekommen und eine Art persönliche Spezialanfertigung ihrer bipolaren Störung entwickelt. Ging es um mich und meine Geschwister konnte sie zu einer manischen und kontrollsüchtigen Bärenmutter werden; dann wieder verwandelte sie sich in eine Art Zombiekönigin, die nichts anderes tat, als Nachrichtensendungen anzusehen und zu hoffen, meinen verlorenen Bruder Jude irgendwo im Hintergrund zu entdecken. Tagelang weigerte sie sich dann, etwas anderes zu tun, und zeigte keinerlei Rücksichtnahme für ihre anderen Kinder, die alle noch zu Hause waren. Und sie brauchten. Mehr als einmal hatte Dr. Connors meinem Vater geraten, dass sie mehr als Beratung und Medikamente brauchte – dass sie vielleicht eingewiesen werden müsste –, aber Dad hatte sie erst dann in die Klinik gebracht, nachdem ich verschwunden war und sie offenbar vollkommen überschnappte. Er wusste genau, dass sie ihm dies wahrscheinlich nie verzeihen würde.
Dr. Connors blieb vor einem Patientenzimmer stehen. Unter der Zimmernummer war eine kleine Karte mit dem Namen meiner Mutter angebracht. »Ich kenne Ihre Mutter seit vielen Jahren. Sie war ein Geschenk des Himmels, als ich meine Facharztausbildung gemacht habe. Wie Sie aber wahrscheinlich wissen, hatte sie immer eine Neigung, eine perfekte Fassade um sich herum aufzubauen – eine falsche Realität, sozusagen. Das ist eine Art Bewältigungsstrategie. Im Laufe unserer Gespräche während des letzten Jahres hat diese Fassade jedoch Risse bekommen – und jetzt hat irgendetwas ihre falsche Realität so komplett zerstört, dass sie gar nichts mehr bewältigen kann.«
Er öffnete die Tür, und zum ersten Mal seit über einer Woche sah ich meine Mutter – die ich allerdings kaum wiedererkannte. Sie saß aufrecht in ihrem Bett und starrte anscheinend auf einen dunklen Fleck an der Wand gegenüber. Wie alle anderen Patienten trug sie eine graue Jogginghose – ohne Kordel jedoch, wie mir auffiel – und hatte Pantoffeln an den Füßen. Nicht einmal als Tote hätte sie sich in diesen Kleidungsstücken unter normalen Umständen auf die Straße gewagt. Ihr sonst immer gepflegtes Haar war strähnig und ungewaschen. Ihr Gesicht war schmal. Wann hatte sie wohl zuletzt gegessen?
»Sie sitzt hier so, seitdem wir sie hergebracht haben«, sagte Dr. Connors. »Sie will keine Gruppensitzung und möchte auch nicht mit den anderen essen. Sie hat sogar zu mir nicht ein einziges Wort gesagt.«
Ich schluckte. In den letzten Jahren hatte ich schon viele schlechte Phasen meiner Mutter miterlebt, jetzt allerdings schien sie völlig … leer. »Wird sie irgendwann wieder gesund?«
»Nicht, solange ihr Geist sich nicht mit der neuen Realität versöhnen kann – der wirklichen Realität – was immer das auch sein mag. Wie sagt Ihr Vater immer so schön: ›Die Wahrheit macht uns frei‹. Und eben das muss Ihre Mutter verarbeiten: die Wahrheit. Was immer auch ihren jetzigen Zustand hervorgerufen hat – es hat ihr die Grundlage entzogen. Und bis sie ihre Basis nicht wiedergefunden hat, sowohl psychisch als auch emotional, ist dies hier die einzige Art und Weise, auf die ihr Geist zu funktionieren versteht.« Er spielte
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