Urbat: Gefährliche Gnade (German Edition)
auf ihren katatonischen Zustand an.
Ich nickte, als würde ich ihn tatsächlich verstehen. Mom musste demnach irgendwann akzeptieren, dass ihr ältester Sohn ein Werwolf und ihre Tochter eine Dämonenjägerin mit Superkräften war – und es ihren Ärzten sagen. Super. In absehbarer Zeit würde sie wohl kaum aus der Psychiatrie herauskommen.
»Ich lasse Sie zehn Minuten mit ihr allein. Kurze Besuche sind am besten.«
Ich sah auf die Uhr und tat so, als hätte ich ohnehin nicht viel Zeit. Für mehr als einen kurzen Besuch fehlte mir sowieso die Kraft. Vielleicht habe ich auch generell keine Kraft …
»Gut, dass Sie gekommen sind«, sagte Dr. Connors und schob mich ein Stückchen weiter in den Raum hinein. Dann schloss er die Tür hinter sich. Wieder einmal kam ich mir wie gefangen vor.
Drei ewig lange Minuten vergingen, während ich so dastand und nicht wusste, was ich tun sollte. Oder sagen. Mom blieb völlig reglos. Sie sah nicht mal in meine Richtung.
»Mom?« Meine Stimme kam mir total merkwürdig vor. Ich hatte das Gefühl, zu diesem Schmutzfleck an der Wand zu sprechen. Dann trat ich zwei Schritte näher auf sie zu. »Mom?«
Keine Reaktion.
Vielleicht wollte ich aber auch gar nicht, dass sie mich ansah. Dad hatte ihr erzählt, was mir widerfahren war … über den Fluch … und womöglich betrachtete sie mich jetzt als Monster. Vielleicht war es das, was sie nicht akzeptieren konnte.
»Mommy?« Tränen traten mir in die Augen. »Ich weiß nicht, was Daddy dir erzählt hat, aber es ist die Wahrheit. Ich weiß, es ist nur schwer zu verstehen – was mit Jude … und mir passiert ist. Aber ich bin noch immer deine Tochter. Und Jude ist immer noch dein Sohn. Er ist jetzt zurück. Und er braucht dich. Wir alle brauchen dich.«
Nichts.
»James und Charity sind bei Tante Carol – aber dort können sie nicht für immer bleiben. Und Dad ist verletzt. Ernsthaft. Jemand muss sich um ihn kümmern. Aber ich habe so viele Dinge zu tun. Ich versuche einen Weg zu finden, um Daniel wieder in einen Menschen zu verwandeln. Und um Jude muss sich auch jemand kümmern. Da gibt es einen Irrsinnigen mit einem Rudel von Dämonen. Sie wollen mich töten. Ein anderes Werwolfrudel will mich aus welchen Gründen auch immer ebenfalls in seine Gewalt bringen. Und noch dazu habe ich ein eigenes Rudel aus fünf – nein, vier – Werwolf-Jungen, die in mir ihre Anführerin … oder Mutter sehen. Aber ich weiß nicht, wie ich das alles bewältigen soll. Und ich schaffe es nicht allein. Wir alle brauchen dich.« Ich trat einen Schritt näher an das Bett. Ich hätte gerne meine Arme um sie geschlungen und mich von ihr trösten lassen, wie ich es als Kind getan hatte. Stattdessen legte ich meine Hand auf ihre mageren Finger. »Ich brauche eine Mutter . Wir brauchen alle eine Mutter.«
Sie rührte sich nicht. Nicht einmal ein Finger zuckte.
»Bitte, Mom. Du bist, was du bist. Und wir wollen dich zurückhaben. Es ist deine Wirklichkeit, egal wie verrückt sie auch sein mag. Sei wieder meine Mutter. Bitte.«
Tränen liefen mir über die Wangen. Genau wie Mom hasste ich es, in der Öffentlichkeit zu weinen, ließ es aber geschehen. Sie reagierte nicht. Starrte nur weiterhin auf diesen blöden Schmutzfleck. Ich weiß nicht, was ich von dieser Begegnung eigentlich erwartet hatte, doch immerhin hatte ich mir vorgestellt, dass ihr nicht alles total gleichgültig wäre.
Aus den dunklen Tiefen meines Herzens spürte ich eine grollende Woge in meine Muskeln aufsteigen. Der Wolf in meinem Kopf flüsterte mir zu, meine Mutter – oder die Hülle der Frau vor mir – zu schlagen. Der Impuls war widerlich. Ich presste die Hand auf den Bauch, machte tiefe Atemzüge und versuchte, diese Gefühle aus meinem Bewusstsein zu vertreiben. Ich war nicht hergekommen, um wütend zu werden. Ich war hergekommen, weil ich meine Mutter zurückhaben wollte.
Ich ließ ihre Hand los, ging aus dem Zimmer und verbarg mein tränenüberströmtes Gesicht in den Händen. Dann lief ich schnell am Schwesternzimmer vorbei und bat Latisha, mir die Tür zu öffnen.
Ich musste weg von hier.
Als ich die Psychiatrie verließ, wäre ich fast mit einem älteren Ehepaar zusammengestoßen. Die Frau lehnte sich an ihren Mann, der seine Arme schützend um sie gelegt hatte. Ich bemerkte eine auffallende Ähnlichkeit mit der jungen Frau, die ich beim Hereinkommen gesehen hatte. Ich fragte mich, ob es wohl die Eltern der Patientin waren, und konnte plötzlich den Gedanken nicht
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