Urbat: Gefährliche Gnade (German Edition)
versucht. Es ist überaus anstrengend und gefährlich, wenn es falsch ausgeführt wird.« Er betrachtete die Monitore neben Dads Bett, so als verstünde er, was all die Linien und Zahlen bedeuteten. »So, wie der Zustand deines Vaters jetzt ist, glaube ich, dass es einen Versuch wert ist. Wenn du es gestattest.«
»Ja«, sagte ich. »Bitte hilf ihm.«
»Man muss es zu zweit machen. Ich werde deine Hilfe brauchen.« Er lächelte mich aufmunternd an und wirkte wie ein Pastor, der einem seiner Gemeindemitglieder Trost spenden wollte. »Du musst dich total konzentrieren und alle negativen Gedanken aus deinem Bewusstsein drängen. Nur so kannst du deine positive Energie auf ihn übertragen. Keine negativen Gefühle oder Gedanken. Es muss eine Gabe der Liebe sein.«
Ich blickte zu Dad. Sein geschwollenes Gesicht war fast vollständig von einer Sauerstoffmaske verdeckt. Ich konnte lediglich seine geschlossenen Augen erkennen. Er sah so hilflos aus. Wieso hatte er darauf bestanden, zum Lagerhaus zu fahren? Warum hatte ich ihn gehen lassen? Was wäre, wenn ich versagte? Was würde passieren, wenn ich noch nicht bereit wäre? Wenn ich meinen Geist nicht öffnen könnte?
Tief einatmen.
Tief einatmen.
Ich musste alle Zweifel beiseiteschieben.
»Dann zeig mir, was ich machen soll. Ich muss irgendetwas für ihn tun.« Ich streckte meine Hände aus, so als wären die heilenden Kräfte etwas Greifbares, das er mir überreichen könnte.
Gabriel zog den Vorhang ein Stückchen weiter vor die Glastür und das Beobachtungsfenster, wollte ihn aber nicht ganz schließen, damit wir nicht zu viel Aufmerksamkeit erregten. Die Krankenschwestern ließen mich normalerweise für maximal zwanzig Minuten in Dads Zimmer, was bedeutete, dass wir jetzt weniger als zehn Minuten zur Verfügung hatten, bevor irgendjemand hereinkommen und uns zurück in den Warteraum scheuchen würde. Gabriel nahm meine Hände in seine und führte mich näher an Dads Bett heran. Dann legte er meine Hände auf Dads flache Brust. Seine Atemzüge kamen mir unnatürlich vor. Schwach und angestrengt.
Gabriel legte seine Hände sanft auf meine. »Leere deinen Geist. Öffne einen Weg für deine positive Energie. Lass sie von deinem Herzen durch deine Hände und in ihn hineinfließen. Die negativen Energien nähren den Wolf in dir, aber damit die Heilung gelingt, musst du sie völlig beiseiteschieben. Atme tief ein. Meditiere. Leere deinen Geist. Öffne dein Herz.«
Fast hätte ich meine Hände wieder unter Gabriels weggezogen. »Aber was passiert, wenn ich das hier nicht kann?«
»Ich glaube an dich, Grace.« So etwas hatte Gabriel noch nie zuvor gesagt. Ich hatte ihn immer für den ältesten Skeptiker der Welt gehalten. »Du bist das Mädchen, das den Wölfen widerstanden hat. Die Göttliche, wie es heißt.«
»So komme ich mir nicht gerade vor.«
»Du musst es versuchen – für deinen Vater.«
Ich nickte. Gabriel holte tief Luft und ließ sie zwischen seinen Lippen wieder ausströmen. Ich tat es ihm nach. Er schloss die Augen. Ich ebenso.
»Konzentrier dich auf deine Liebe für ihn. Löse dich von allen Zweifeln und stelle dir vor, dass er gesund wird.«
Gabriel schwieg für einen Augenblick, aber dann legte er seine Hände fest auf meine. Die Wärme strahlte von seinen Fingern ab und übertrug sich pulsierend auf meine. Ich versuchte, mir meinen Vater wieder gesund vorzustellen und alte Erinnerungen aufleben zu lassen. Seine Art zu lächeln. Seine geduldige Stimme. Doch während sich die Wärme weiter in meinen Händen ausbreitete und an Intensität zunahm, wanderten meine Erinnerungen zu der schrecklichen Szene im brennenden Korridor. Wie leblos und schlaff mein Vater in Talbots Armen ausgesehen hatte, als ich zu ihnen vorgedrungen war. Ich hatte nicht verhindern können, dass er verletzt wurde – was also ließ mich glauben, dass ich ihm jetzt helfen könnte?
Du bist zu schwach, knurrte der Wolf in mir. Du kannst ihm nicht helfen. Du kannst niemandem helfen.
Ich zuckte zusammen. Die von Gabriels Händen abstrahlende Hitze war fast zu viel. Ich biss die Zähne zusammen und versuchte es auszuhalten. Dad brauchte meine Hilfe. Nur wegen mir war er zu diesem Lagerhaus gefahren …
Lebhafte Erinnerungen an das Feuer fegten durch meinen Kopf. Das Geräusch der Explosion durch das Telefon. Die Worte der Krankenschwester. Mein Vater, der so reglos dalag.
Es ist dein Fehler. Es ist dein Fehler. Es ist dein Fehler.
Es ist dein Fehler.
»Nein!«, versuchte ich
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