Urbat: Gefährliche Gnade (German Edition)
legen konnte, sie mir über das Haar strich und mir versicherte, dass alles gut werden würde.
Das ganze letzte Jahr hatte ich sie ausgeschlossen und von meinen Geheimnissen ferngehalten. Vielleicht war es aus dem noblen Gedanken heraus geschehen, dass ich sie schützen wollte. Vielleicht hatte ich gedacht, sie wäre zu zerbrechlich, um die Wahrheit zu ertragen. Oder vielleicht war der eigentliche Grund auch, dass ich befürchtet hatte, sie hätte womöglich Angst vor dem, was aus mir geworden war.
Aber wie sehr ich in letzter Zeit auch reifer geworden war und mich verändert hatte, wie stark meine Kräfte auch geworden sein mochten – ich wusste, dass ich meine Mom noch immer brauchte.
Aber würde sie mich noch wollen?
Ich mobilisierte alle Energie, die mir nach der fehlgeschlagenen Kraftübertragung noch geblieben war, um das zu tun, was ich als Nächstes tat: Ich streckte die Finger aus, drückte auf den Aufwärts knopf und wartete auf das Ping der sich öffnenden Aufzugtüren. Obwohl ich mich vor der Begegnung fürchtete, wusste ich doch, was ich tun musste. Es war an der Zeit, meiner Mutter … nun, alles zu erzählen.
KAPITEL 8
Das Innere nach außen gekehrt
Ein paar Etagen höher
Ein altertümliches beigefarbenes Telefon hing an der Wand vor der geschlossenen psychiatrischen Abteilung. Das Schild darüber informierte mich über eine Nummer, die man wählen musste, um hineingelassen zu werden. »Ich möchte Meredith Divine besuchen«, sagte ich der Schwester am anderen Ende der Leitung. Ich legte auf, als die Tür summte und von einem automatischen Mechanismus geöffnet wurde. Ich lief ein paar Schritte in die Abteilung hinein und befand mich in einem breiten Flur mit blassgrün gestrichenen Wänden. Der Geruch von muffigen Süßigkeiten aus einem Automaten, vermischt mit Ammoniak, schlug mir entgegen. Ein weiteres Schild hing an der Wand: HOHES FLUCHTRISIKO. TÜREN BITTE FEST SCHLIESSEN.
Ich tat wie geheißen und versicherte mich, dass die schwere Tür hinter mir ins Schloss fiel. Plötzlich überkam mich der Impuls, sie wieder aufzureißen und hinaus auf den Parkplatz zu fliehen.
Ich kann das nicht.
Die klinkenlose Tür schloss sich mit einem deutlichen Klicken. Jetzt war es zu spät für eine Umkehr. Ich hätte ins Schwesternzimmer gehen müssen, damit die Tür wieder geöffnet werden konnte. Und wenn ich schon dort hinging, dann konnte ich mich genauso gut nach meiner Mutter erkundigen.
Ich lief den Flur entlang und kam an einer jungen Frau vorbei, die auf einer Bank hockte, welche so aussah, als hätte man sie schon in den 1980er Jahren austauschen müssen. Sie spielte an einer langen Haarlocke herum, die ihr ins Gesicht gefallen war, und schaukelte dabei vor und zurück. Ich betrat den Hauptbereich der Abteilung und trug mich in eine Besucherliste ein. Währenddessen konnte ich in einen verglasten Raum blicken, wo eine Gruppe von Leuten im Kreis saß. Ein Mann in Freizeithose und kariertem Hemd schien eine Art Diskussion zu leiten. Alle anderen trugen graue Jogginghosen. Patienten, wie ich annahm.
»Sie wollen zu Meredith Divine?«, fragte mich eine Frau, die an einem Schreibtisch saß und LATISHA auf ihrem Namensschild stehen hatte. Als sie den Namen meiner Mutter nannte, schien sie die Ähnlichkeit zwischen mir und Mom zu bemerken.
Bevor Mom den Überblick verloren hatte, war sie als Krankenschwester an einer ambulanten psychiatrischen Klinik in Apple Valley angestellt gewesen, hatte aber auch manchmal hier in der Hauptabteilung ausgeholfen, wenn Dr. Connors zusätzliches Personal benötigte. Ich bin sicher, dass es unter den Schwestern viel Gerede gegeben hatte über die Kollegin, die jetzt eine Patientin geworden war. Diese Art von Klatsch hätte meine Mutter wohl umgebracht, wenn sie davon erfahren hätte. Der gute Ruf hatte ihr immer mehr als alles andere bedeutet.
Ich nickte. »Ich kann auch noch mal wiederkommen … wenn der Zeitpunkt ungünstig ist. Sieht so aus, als wäre da gerade eine Gruppensitzung.«
»Ach Unsinn, Kleine«, erwiderte Latisha. »Meredith ist in keiner Gruppe. Und Besuch ist genau das, was der Arzt ihr verordnet hat.«
»Sehr richtig«, sagte Dr. Connors, der plötzlich neben mir auftauchte. Er hatte ein Klemmbrett in der Hand und trug einen langen weißen Kittel über Hose und Pullover – derselbe Pullover übrigens, den er im letzten Jahr zu unserem verhängnisvollen Thanksgiving-Festessen getragen hatte. Er lächelte mich freundlich an, doch seine Augen
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