Urbat: Gefährliche Gnade (German Edition)
ertragen, mit ihnen zusammen in den engen Aufzug zu steigen. Als liefe ich dadurch Gefahr, auch noch ihren Schmerz in mir aufzunehmen.
Stattdessen schob ich die schwere Tür zum Treppenhaus auf und ließ sie hinter mir zufallen. Meine Schritte hallten von den Wänden wider, während ich die Stufen hinunterrannte. Ich schaffte es gerade noch bis zum Treppenabsatz vor der Intensivstation, bevor ich schluchzend zusammenbrach. Die Geräusche wurden durch das leere Treppenhaus verstärkt. Ich hasste mich selbst, weil ich geglaubt hatte, meiner Mutter begreiflich machen zu können, wie sehr ich sie brauchte. Als hätte ich sie ohne Weiteres aus ihrem katatonischen Zustand befreien können. Ich verabscheute die schrecklichen Gedanken, die mir in den Kopf gekommen waren, nachdem es mir nicht gelungen war. Tief im Innern wusste ich, dass ich sie für ihre psychische Unzurechnungsfähigkeit nicht verantwortlich machen konnte, genauso wenig, wie ich meinem Vater vorwerfen konnte, bewusstlos auf der Intensivstation zu liegen.
Nichtsdestotrotz bedeutete es aber, dass ich noch immer völlig allein war.
Ich gestattete mir zu weinen, bis der Schmerz von einem tiefen Gefühl der Müdigkeit abgelöst wurde und sich meine Muskeln angesichts der Strapazen dieses grauenvollen Tages verspannten. Ich hatte das Gefühl, an einem Triathlon-Wettbewerb teilgenommen zu haben – ohne meine Superkräfte.
Ich schloss die Augen und stieß einen tiefen Seufzer aus. Es dauerte nur ein paar Augenblicke, bevor sich ein weiterer Daniel-Traum in mein Bewusstsein drängte.
Er war anders als die üblichen Träume. Ich saß nicht wie sonst, sondern stand auf einer Bank. Daniel war direkt vor mir. Einen Moment lang lag das spielerische, etwas verschlagene Lächeln auf seinen Lippen, dann wurde sein Gesichtsausdruck plötzlich ernst und besorgt. Alles schien ganz real, und es fiel mir schwer, daran zu denken, dass es sich bei diesem Traum nur um eine Fantasie handelte, die meinem Kummer entsprungen war.
»Geht es dir gut?«, fragte Daniel.
Ich versuchte, einen Schritt näher auf ihn zuzugehen, aber mein Körper schwankte gefährlich. Sogar in meinem Traum war ich erschöpft. Daniel streckte seine kräftigen Hände aus und stützte mich. Ich wusste genau, dass ich dem Traum keinen Glauben schenken durfte – ich würde es nur umso mehr bereuen, wenn mir klar wurde, dass es eine Illusion war –, konnte jedoch Daniels Wärme ganz deutlich spüren und dem Drang nicht widerstehen, meine Arme um ihn zu schlingen und mein Gesicht an seine Brust zu legen.
Daniel umarmte mich und zog mich in seine beschützende Wärme. Er legte sein Kinn auf meinen Kopf, und ich spürte, wie sein Atem meine Haare und meine Kopfhaut kitzelte. Das Gefühl war so wundervoll, dass ich wohlig aufstöhnen musste.
»Ich liebe dich«, flüsterte ich, an seine Brust gelehnt.
Er holte tief Luft. »Ich liebe dich auch«, flüsterte er so leise, dass ich die Worte beinahe eher fühlte, als sie tatsächlich zu hören.
Ich schob meine Hand an seiner Brust hinauf und ließ die Finger auf seinem warmen Hals ruhen. »Warum versuchst du mich zu verlassen, Daniel?«
Seine Umarmung wurde starr. Ich hörte ein Räuspern, und obwohl mir die Stimme bekannt vorkam, war es nicht Daniels.
Und der Stoff auf seiner Brust fühlte sich sehr nach Flanell an.
Oh, nein! Meine Augen klappten auf und starrten in das Gesicht, das zu den mich haltenden Armen passte – in der Wirklichkeit, nicht im Traum. Fast unter dem Schirm einer roten Baseballmütze verborgen, betrachteten mich hellgrüne Augen.
»Talbot?« Ruckartig wand ich mich aus seiner Umarmung. »Was um Himmels willen tust du da?«
»Hallo.« Abwehrend hob er seine großen Hände. »Ich bin gerade ins Treppenhaus gekommen, als ich dich hier hab stehen sehen. Du hast ausgesehen, als ob du gleich umkippst. Ich hab gefragt, ob’s dir gut geht, und dann hast du mich umarmt.«
»Hab ich nicht.« In meinem Nacken brannten die roten Flecken, die immer dann auftauchten, wenn ich log. Aber das hatte ich gar nicht. »Ich bin eingeschlafen. Ich dachte, du wärst jemand anderer. Du hast die Situation ausgenutzt.«
»Situation ausgenutzt? Wie wär’s mit: Ich hab dich vor’m Zusammenbrechen bewahrt?«
»Es geht mir gut. Und das hab ich ganz bestimmt nicht dir zu verdanken.«
»Nicht mir zu verdanken?«
»Du hast gesagt, du wolltest hierherkommen. Wann war das – vor fünf Stunden? Kannst du dir eigentlich vorstellen, wie allein und ängstlich ich
Weitere Kostenlose Bücher