Urbat: Gefährliche Gnade (German Edition)
Hand durch sein welliges, schokoladenbraunes Haar. »Was ist mit mir? Ich könnte versuchen, dich aufzuhalten.«
»Nein, Tal«, sagte ich und benutzte seinen Spitznamen, der nur engen Freunden vorbehalten war. Er hatte mich einmal gebeten, ihn nicht zu verwenden, weil er sich aus meinem Munde angeblich viel zu gut anhörte. »Du kannst nichts dagegen tun. Es sei denn, du könntest auf wundersame Weise einen Mondstein herbeizaubern. Das könnte meine Meinung ändern. Ich fahr jetzt nach Hause und packe, und morgen früh fahre ich los.«
Er schien etwas sagen zu wollen und öffnete den Mund, schloss ihn dann aber wieder. Er hatte es sich anscheinend anders überlegt. Eine Sekunde lang glaubte ich, einen tiefen Schmerz hinter seinen Augen aufblitzen zu sehen.
Ich stellte mich auf die Zehenspitzen und drückte einen flüchtigen Kuss auf seine Wange. Bei der Berührung meiner Lippen erschauderte sein ganzer Körper. Ihm lag eindeutig viel zu viel an mir. »Lass mich einfach gehen. Mach es nicht schlimmer, als es schon ist.«
Ich ließ meine Hand an seinem Arm entlangfahren. Als ich mich umdrehte, versuchte er meine Finger festzuhalten.
»Nein. Äh, Grace?«
Ich hatte ihm den Rücken zugekehrt, konnte aber den bittenden Tonfall seiner Stimme hören.
»Lass mich gehen.« Ich fasste nach der Tür.
»Ich kann nicht«, sagte er. »Ich kann nicht zulassen, dass du dich Sirhan auslieferst.«
»Ich muss.«
»Nein, das musst du nicht.« Er fasste meine Hand und drehte mich zu sich herum.
»Weil ich das hier habe.« Ein harter, flacher und warmer Gegenstand lag plötzlich auf meiner Handfläche. Talbot zog seine Hand zurück.
Im ersten Moment erkannte ich es nicht. Es sah aus wie ein an den Ecken abgerundetes Dreieck, und die Farbe war eher silbrig als wie üblich schwarz. Eine große Einkerbung ließ unter den glatten Oberfläche einen kristallartigen Kern erkennen – aber die abstrahlende Wärme war unverwechselbar.
Ich spürte Hoffnung in mir aufkeimen.
»Ein Mondstein?«, keuchte ich.
KAPITEL 9
Stillstand
Ein paar Sekunden später
»Woher hast du …? Hast du ihn im Lagerhaus gefunden? Warum hast du es mir nicht gleich erzählt?«
Talbot räusperte sich und wich meinem Blick aus.
Ich betrachtete wieder den Stein. Er sah so verwittert und ramponiert aus. War das durch das Feuer im Lagerhaus passiert? Nein, schoss es mir durch den Kopf. Dieser Stein war zu groß, um von den zersplitterten Überresten des Mondsteins zu stammen, den ich im Lagerhaus verloren hatte. Ich ließ meine Finger über die Oberfläche gleiten und bemerkte das kleine Loch, das an einer Stelle in den Stein gebohrt worden war; offenbar um daran eine Kette oder ein Lederband zu befestigen. Mein Blick ruhte auf der Einkerbung in der Oberfläche. Sie sah halbmondförmig aus und wirkte so, als wäre der Stein über ein Jahr lang den Einwirkungen des Wetters ausgesetzt gewesen …
»Das ist der Stein, nach dem wir auf dem Friedhof gesucht haben, nicht wahr? Die andere Hälfte von Daniels Mondstein?«
Ich konnte die Anspannung an Talbots verkrampftem Kiefer ablesen. Er nickte kaum merklich. Er verbarg etwas, und ich war mir plötzlich ziemlich sicher, was es war. Mein Magen drehte sich um.
»Wann hast du den Stein gefunden?«
»Vorher.«
»Vor wann?«
»Vor heute.«
»Du hast ihn also gestern gefunden? Bevor du mir gesagt hast, ich müsse akzeptieren, dass es hoffnungslos sei, ihn zu finden. Weil du ihn bereits hattest. Du hattest ihn die ganze Zeit … sogar schon, als wir beschlossen haben, im Lagerhaus zu suchen? Du hast ihn gefunden, noch bevor du dich bereit erklärt hast, mit meinem Dad dort hinzugehen?« Ein ungezügelter Kraftschub schoss durch meinen Körper. Meine Muskeln brannten mit einer Intensität, die genauso schmerzte, wie der Verrat, den ich fühlte. »Bevor mein Dad verletzt wurde!«
»Ja«, stieß er hervor.
»Du hast also einfach ein Spielchen gespielt? Du hattest diesen Stein die ganze Zeit und hast mir nichts davon gesagt. Du hast meinen Dad zum Lagerhaus begleitet, obwohl du wusstest, dass er gar nicht dort hingehen musste. Bist du nur deswegen mitgegangen, damit du alles, was er vielleicht dort finden würde, verstecken konntest? Mein Dad wäre überhaupt nicht verletzt worden, wenn du etwas gesagt hättest! Warum zum Teufel wolltest du den Stein vor mir verbergen?«
Er öffnete den Mund, aber ich ließ ihn nicht zu Wort kommen.
»Ich weiß schon, wieso«, sagte ich. »Du wolltest mir den Mondstein nicht
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