Urbi et Orbi
nötig.
»Ja, das ist richtig«, pflichtete ein Kardinal an einem anderen Tisch ihm bei.
Valendrea blickte von seinem Frühstücksei auf und sah, dass es der Spanier war, den er sich am Vorabend zur Brust genommen hatte. Der untersetzte, kleine Mann war aufgestanden.
»Unsere Kirche liegt darnieder«, sagte der Spanier. »Es wird Zeit, dass etwas geschieht. Ich erinnere mich an Zeiten, als jeder Hochachtung vor dem Papst hatte. Die Regierungen achteten seine Worte, und selbst in Moskau musste man ihn ernst nehmen. Heute ist nichts mehr davon übrig. Unsere Priester sollen sich nicht mehr in die Politik einmischen und unsere Bischöfe ihren Standpunkt nicht mehr deutlich machen. Selbstzufriedene Päpste schaden der Kirche nur.«
Ein anderer Kardinal stand auf. Er trug einen Bart und kam aus Kamerun. Valendrea kannte ihn kaum, nahm aber an, dass er zu Ngovis Leuten gehörte. »Ich finde keineswegs, dass Clemens XV. selbstzufrieden war. Man hat ihn auf der ganzen Welt geliebt, und in seiner kurzen Zeit hat er viel bewirkt. «
Der Spanier hob die Hand. »Ich wollte niemandem zu nahe treten. Es geht hier um nichts Persönliches, sondern darum, was das Beste für die Kirche ist. Glücklicherweise haben wir einen Mann unter uns, den man weltweit achtet. Kardinal Valendrea wäre ein vorzüglicher Papst. Warum sollte man sich mit weniger zufrieden geben?«
Valendrea sah zu Ngovi hinüber. Falls der Camerlengo sich durch diese Bemerkung gekränkt fühlte, ließ er es sich jedenfalls nicht anmerken. Dies war ein Ereignis, wie Kirchenexperten sie liebten. Später würden sie beschreiben, wie der Heilige Geist herabkam und das Konklave bewegte. Die Apostolische Konstitution verbot zwar Wahlkampagnen vor dem Konklave, doch in der Abgeschiedenheit der Sixtinischen Kapelle galt das nicht mehr. Tatsächlich war die offene Diskussion sogar der Zweck dieser Abgeschiedenheit. Das geschickte Manöver des Spaniers beeindruckte Valendrea. So etwas hätte er diesem Trottel gar nicht zugetraut.
»Wer Ngovi wählt, gibt sich nicht mit weniger zufrieden«, sagte der Kardinal aus Kamerun schließlich. »Er ist ein Mann Gottes. Ein Mann dieser Kirche. Untadelig. Er wäre ein ausgezeichneter Pontifex. «
»Valendrea etwa nicht?«, schrie der französische Kardinal und sprang auf.
Valendrea erstaunte diese Szene: Kirchenfürsten in vollem Ornat, die erregt debattierten. Zu jedem anderen Zeitpunkt hätten sie alles getan, um einer Konfrontation aus dem Weg zu gehen.
»Valendrea ist jung. Und die Kirche braucht einen jungen Mann. Zeremonien und schöne Reden machen noch keinen Führer. Der Charakter ist es, der aus einem Mann einen Führer der Gläubigen macht. Valendrea hat seinen Charakter unter Beweis gestellt. Er hat unter vielen Päpsten gedient …«
»Genau das meine ich ja«, warf der Kardinal aus Kamerun ein. »Er hat nie einer Diözese gedient. Wie viele Beichten hat er abgenommen? Wie viele Menschen hat er beerdigt? Wie oft hat er Gemeindemitglieder beraten? Diese pastorale Erfahrung ist es, die wir auf dem Heiligen Stuhl brauchen.«
Die Kühnheit des Kameruners war beeindruckend. Valendrea hatte gar nicht gewusst, dass in einer purpurroten Soutane so viel Rückgrat stecken konnte. Ganz intuitiv hatte dieser Mann das von Valendrea so gefürchtete Argument der pastoralen Erfahrung angeführt. Er würde diesen Mann in den nächsten Jahren gut im Auge behalten müssen.
»Ganz im Gegenteil«, widersprach der Franzose. »Der Papst ist kein Pastor. Das Bild des Hirten ist etwas für Gelehrte. Eine Leerformel, mit der wir unsere Entscheidung begründen. Sie bedeutet nichts. Der Papst verwaltet und regiert. Er muss die Kirche führen, und um sie führen zu können, muss er die Kurie verstehen. Er muss wissen, wie sie funktioniert. Das weiß Valendrea besser als irgendeiner von uns. Wir haben pastorale Päpste gehabt. Doch jetzt brauchen wir einen Führer. «
»Vielleicht weiß er zu gut, wie die Kurie funktioniert«, warf der Kardinalarchivar ein.
Valendrea wäre um ein Haar zusammengezuckt. Der Kardinalarchivar war der ranghöchste Kardinal des Konklave. Seine Meinung würde bei den elf Unentschiedenen ins Gewicht fallen.
»Was wollen Sie damit sagen?«, fragte der Spanier.
Der Archivar blieb sitzen. »Die Kurie kontrolliert zu viel. Wir alle klagen über die Bürokratie und ändern doch nichts daran. Warum? Weil sie unseren Bedürfnissen dient. Sie bildet einen Schutzschirm gegen alle Veränderungen, die wir uns nicht
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