Urbi et Orbi
einander mit. Dann werden Si e s ehen, wie nahe man sich kommen kann, wenn man sich wirklich füreinander interessiert. Diese Freude verbietet die Kirche uns ja nun nicht.
Er erinnerte sich an die Fragen, die Clemens ihm nur wenige Stunden vor seinem Tod in Castel Gandolfo gestellt hatte: Warum dürfen Priester nicht heiraten? Warum müssen sie keusch leben? Warum soll das, was anderen Menschen gestattet ist, den Geistlichen verboten sein?
Michener konnte sich der Frage nicht erwehren, wie weit Clemens ’ Beziehung zu Irma Rahn wohl gegangen war. Hatte der Papst sein eigenes Keuschheitsgelübde verletzt? Hatte er dasselbe getan, weswegen Thomas Kealy nun angeklagt wurde? Nichts in den Briefen wies auf eine sexuelle Beziehung hin, doch das hieß noch nicht viel. Schließlich würde man so etwas wohl kaum schriftlich festhalten.
Er ließ sich aufs Sofa sinken und rieb sich die Augen.
Hochwürden Tibors Übersetzung war nicht in der Truhe gewesen. Michener hatte jeden einzelnen Umschlag durchsucht und jeden Brief gelesen, um sicherzugehen, dass Clemens das Dokument nicht vielleicht auf diese Weise getarnt hatte. Doch in den Briefen wurde Fatima noch nicht einmal andeutungsweise erwähnt. Anscheinend war er auch hier in eine Sackgasse geraten. Er stand wieder ganz am Anfang. Nur, dass er jetzt über Irma Rahn Bescheid wusste.
Vergessen Sie Bamberg nicht.
Das waren Jasnas Worte gewesen. Und was hatte Clemens in seiner Abschiedsmail geschrieben? Meine persönliche Präferenz allerdings ist Bamberg. In dieser wunderschönen Stadt an der Regnitz und in ihrem Dom, den ich so sehr geliebt habe, würde ich gern meine letzte Ruhe finden. Ich bedaure nur, dass ich meine Heimatstadt nicht noch ein letztes Mal sehen konnte. Vielleicht könnte mein Vermächtnis immer noch dort sein.
Dann der Nachmittag im Wintergarten von Castel Gandolfo und Clemens ’ geflüsterte Worte:
Ich habe Valendrea das Dokument in der Fatima-Schatulle lesen lassen.
» Was ist es? «
» Ein Teil dessen, was Hochwürden Tibor mir geschickt hat. «
Ein Teil? Erst jetzt kapierte Michener diesen Hinweis.
Die Reise nach Turin ging ihm durch den Sinn. Clemens ’ aufgebrachte Bemerkungen über seine Loyalität und seine Fähigkeiten. Und der Umschlag. Würden Sie dies hier bitte für mich zur Post bringen? Der Brief war an Irma Rahn adressiert gewesen. Michener hatte sich damals nichts dabei gedacht. Er hatte im Laufe der Jahre viele Briefe an sie aufgegeben. Aber warum diese eigenartige Aufforderung, den Brief unbedingt in Turin aufzugeben, und zwar persönlich?
Am Vorabend jenes Tages war Clemens in der Riserva gewesen. Michener und Ngovi hatten draußen gewartet, während der Papst die Schatulle öffnete. Das wäre eine ausgezeichnete Gelegenheit gewesen, etwas aus dem Kästchen zu entfernen. Was bedeutete, dass die Reproduktion der Übersetzung Tage später, als Clemens und Valendrea sich in der Riserva trafen, schon nicht mehr da war. Was hatte Michener Valendrea vorhin gefragt?
Woher wissen Sie denn, dass es überhaupt in der Schatulle lag?
Das weiß ich nicht. Aber nach jenem Freitagabend war niemand mehr im Archiv, und zwei Tage darauf war Clemens tot.
Die Wohnungstür flog krachend auf.
Das Zimmer war nur von einer einzigen Lampe erleuchtet, und Michener sah, wie sich ein großer, dünner Mann aus de m H albdunkel auf ihn stürzte. Der Eindringling riss ihn vom Boden hoch und hieb ihm die Faust in den Unterleib.
Ihm blieb die Luft weg.
Der Angreifer verpasste ihm einen weiteren Schlag gegen die Brust, und Michener stürzte taumelnd auf sein Schlafzimmer zu. Er war wie gelähmt vor Schreck. Noch nie hatte er sich mit jemandem geschlagen, noch nie! Instinktiv riss er schützend die Arme hoch, doch der Mann hieb ihm wieder in den Bauch. Michener brach auf seinem Bett zusammen.
Keuchend starrte er zu der dunklen Gestalt hinauf und fragte sich, was als Nächstes kommen würde. Der Mann zog etwas Schwarzes, Rechteckiges aus seiner Tasche, das etwa fünfzehn Zentimeter lang war. Auf der einen Seite standen zwei glänzende Metallspitzen hervor wie die Arme einer Pinzette. Dazwischen blitzte plötzlich ein Lichtstrahl auf.
Eine Betäubungspistole.
Die Schweizergardisten benutzten sie, um den Papst auch ohne Kugeln beschützen zu können. Man hatte Michener und Clemens die Waffen gezeigt und ihnen erklärt, wie die Ladung der 9-V-Batterie sich in einen Stromstoß von 200000 Volt umwandeln ließ, der den Getroffenen sofort außer Gefecht
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