Urbi et Orbi
oft von seinen Eltern erzählt. Die Volkners hatten seit den Tagen Ludwigs I. zum bayerischen Adel gehört. Die Familie war von Anfang an gegen den Nationalsozialismus gewesen und hatte Hitler nie unterstützt. Man hatte diese Haltung jedoch klugerweise für sich behalten und in aller Stille versucht, den Bamberger Juden zu helfen. Volkners Vater hatte die Ersparnisse zweier jüdischer Bamberger Familien zu treuen Händen übernommen und bis zum Ende des Kriegs aufbewahrt. Leider war niemand zurückgekommen, um das Geld abzuholen. So hatte er später alles bis auf die letzte Mark dem Staat Israel übergeben. Eine Gabe aus der Vergangenheit in der Hoffnung auf eine bessere Zukunft.
Die Vision von Medjugorje schoss Michener erneut durch den Kopf.
Jakob Volkners Gesicht.
» Missachte die Wünsche des Himmels nicht länger. Führe aus, worum ich dich gebeten habe. Vergiss nicht, ein treuer Diener ist nicht zu verachten. «
» Was ist meine Bestimmung, Jakob? «
Doch er hatte Hochwürden Tibor gesehen, als er die Antwort hörte:
» Ein Zeichen für die Welt zu sein. Ein Leuchtturm der Reue. Der Bote, der verkündet, dass Gott lebendig ist. «
Was hatte das alles zu bedeuten? War es real? Oder hatte er einfach aufgrund des Blitzschlags halluziniert?
Langsam blätterte er durch die Bibel. Die Seiten fühlten sich an wie aus Stoff. Hier und da waren Zeilen unterstrichen. Er lenkte sein Augenmerk auf die unterstrichenen Passagen.
Apostelgeschichte 5,29: Man muss Gott mehr gehorchen als den Menschen.
Jakobus 1,27: Ein reiner und makelloser Dienst vor Gott, dem Vater, besteht darin: für Waisen und Witwen zu sorgen, wenn sie in Not sind, und sich vor jeder Befleckung durch die Welt zu bewahren.
Matthäus 15, 3.6: Warum missachtet denn ihr Gottes Gebot um eurer Überlieferung willen? Damit habt ihr Gottes Wort um eurer Überlieferung willen außer Kraft gesetzt.
Matthäus 5,19: Wer auch nur eines von den kleinsten Geboten aufhebt und die Menschen entsprechend lehrt, der wird im Himmelreich der Größte sein.
Daniel 4,23: Deine Herrschaft bleibt dir erhalten, sobald du anerkennst, dass der Himmel die Macht hat.
Johannes 8,28: Ihr werdet erkennen, dass ich nichts im eigenen Namen tue, sondern nur das sage, was mich der Vater gelehrt hat.
Interessante Stellen hatte Clemens da ausgewählt. Weitere Botschaften eines gequälten Papstes oder einfach eine zufällige Auswahl?
Unten lugten vier bunte Seidenfäden aus dem Buch heraus, die im oberen Viertel zu einem Strang zusammengefasst waren. Er griff danach und klappte das Buch auf der entsprechenden Seite auf.
Ein schmaler Silberschlüssel war in den Strang eingeschnürt.
Hatte Clemens den Schlüssel absichtlich dort versteckt? Die Bibel hatte in Castel Gandolfo auf dem Nachttisch neben Clemens ’ Bett gelegen. Der Papst hatte davon ausgehen können, dass außer Michener keiner das Buch aufschlagen würde.
Michener wusste, zu welchem Schloss dieser Schlüssel passte, und löste ihn aus der Verschnürung.
Dann schob er ihn ins Schloss der Truhe. Die Riegel gaben nach, und der Deckel ließ sich aufklappen.
Drinnen lagen Briefumschläge. Hundert oder mehr, alle in einer weiblichen Handschrift an Clemens adressiert. Die Adressen des Empfängers änderten sich. München, Köln, Dublin, Kairo, Kapstadt, Warschau, Rom. In all diesen Städten hatte Clemens der Kirche gedient. Doch die Adresse der Absenderin war immer dieselbe. Da Michener sich stets um Volkners Post gekümmert hatte, waren ihm diese Briefe seit mehr als zwei Dutzend Jahren vertraut. Die Schreiberin hieß Irma Rahn und war eine Schulfreundin. Michener hatte nicht nach ihr gefragt, und Clemens hatte von sich aus nur erzählt, dass sie in Bamberg zusammen aufgewachsen waren.
Clemens hatte einige alte Freunde, mit denen er regelmäßig korrespondierte, doch alle Briefe in der Truhe stammten von Irma Rahn. Warum hatte Clemens diese Briefe hinterlassen? Warum hatte er sie nicht einfach vernichtet? Sie ließen sic h s chließlich mühelos fehldeuten, insbesondere von Feinden wie Valendrea. Doch offensichtlich war Clemens bereit gewesen, dieses Risiko einzugehen.
Da die Briefe nun ihm gehörten, zog Michener einen davon aus seinem Umschlag und fing an zu lesen.
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J akob ,
wie sehr schmerzten mich die Nachrichten aus Warschau. Ich las, dass du zu denen gehörtest, die beim Ausbruch der Unruhen mitten in der Menge waren. Die Kommunisten wären dich und die anderen Bischöfe bestimmt liebend gerne auf diese
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