Urbi et Orbi
Stockwerk höher, während die Schritte von unten immer näher kamen. Michener konnte vor Schmerzen kaum gehen, doch das Adrenalin in seinem Blut trieb ihn weiter.
»Wie kommen wir hier raus?«, flüsterte Katerina.
»Weiter hinten gibt es noch ein Treppenhaus. Dort führt die Treppe in den Hof hinunter. Komm mit. «
Vorsichtig schlichen sie den Korridor entlang, vorbei an geschlossenen Wohnungstüren, und kamen so in den rückwärtigen Teil des Gebäudes. Michener erreichte das hintere Treppenhaus gerade in dem Moment, als zwanzig Meter hinter ihnen zwei Männer auftauchten.
Er nahm drei Stufen auf einmal, und es war, als führen ihm Elektroschocks durch den Bauch. Die Reisetasche voller Briefe, die über seiner Schulter hing und bei jedem Schritt gegen sein e R ippen stieß, verschlimmerte die Schmerzen noch. Sie erreichten den ersten Stock, dann das Erdgeschoss und rasten nach draußen.
Der Hof unten war mit Autos zugeparkt, und sie liefen im Slalom zwischen ihnen hindurch. Michener führte Katerina durch einen Torbogen auf den belebten Boulevard hinaus. Autos sch oss en vorüber, und auf dem Bürgersteig wimmelte es von Fußgängern. Zum Glück waren die Römer Nachtschwärmer.
Zwanzig Meter vor ihnen hielt ein Taxi am Straßenrand.
Michener ergriff Katerina bei der Hand und hastete mit ihr auf das Fahrzeug zu. Er warf einen Blick über die Schulter und sah zwei Männer aus dem Hof kommen.
Sie erblickten ihn und rannten hinter ihm her.
Er schaffte es zum Taxi und riss die hintere Tür auf. Sie sprangen hinein. »Fahren Sie los«, schrie er auf Italienisch.
Der Wagen fuhr mit einem Ruck an. Durch die Heckscheibe sah Michener, dass seine Verfolger stehen blieben.
»Wohin fahren wir?«, fragte Katerina.
»Hast du deinen Reisepass dabei?«
»In meiner Handtasche.«
»Fahren Sie zum Flughafen«, wies er den Fahrer an.
60
23.40 Uhr
V alendrea kniete vor dem Altar einer Kapelle, die sein geliebter Papst Paul VI. damals für sich persönlich hatte ausbauen lassen. Clemens hatte diese Kapelle gemieden und einen kleineren Raum im selben Stockwerk genutzt, doch Valendrea hatte die Absicht, diesen reich dekorierten Raum für eine allmorgendliche Messe zu nutzen, zu der er an die vierzig Gäste einladen konnte. Danach würde er ihnen noch ein paar Minuten schenken und sich mit einem Gruppenfoto ihre Loyalität sichern. Clemens hatte sich der Insignien der Macht nie wirklich bedient – noch einer seiner zahlreichen Fehlgriffe! –, doch Valendrea beabsichtigte, all das, was andere Päpste in Jahrhunderten erarbeitet hatten, nach besten Kräften zu nutzen.
Das Dienstpersonal hatte sich für die Nacht verabschiedet, und Ambrosi hatte mit Colin Michener zu tun. Valendrea war froh, allein zu sein, denn er brauchte Zeit zum Beten. Gott hörte ihm zu, wie er genau wusste.
Ob er wohl das Vaterunser oder ein anderes altehrwürdiges Gebet sprechen sollte? Nein, ein offenes Gespräch erschien ihm angemessener. Schließlich war er ja das Oberhaupt der apostolischen Kirche Gottes. Wenn er nicht das Recht besaß, sich frei heraus mit dem Herrn zu unterhalten, wer dann?
Dass er durch Michener die Gelegenheit erhalten hatte, das zehnte Geheimnis von Medjugorje zu lesen, hielt er für ein Zeichen des Himmels. Es musste einen Grund dafür geben, dass er sowohl die Botschaft von Medjugorje als auch die von Fatima hatte lesen dürfen. Hochwürden Tibors Ermordung war ohne jeden Zweifel berechtigt gewesen. Das fünfte Gebot verbot zwar das Töten, doch die Päpste hatten über Jahrhunderte hinweg Millionen von Menschen im Namen des Herrn niedergemetzelt. Die jetzige Zeit bildete da keine Ausnahme. Die Heilige Katholische Kirche schien wirklich in Gefahr. Clemens XV. war zwar inzwischen gestorben, doch sein Schützling lebte noch, und Clemens hatte ein gefährliches Vermächtnis hinterlassen. Valendrea konnte nicht zulassen, dass die Situation eskalierte. Die Angelegenheit verlangte eine endgültige Lösung. Valendrea würde sich nun mit Colin Michener befassen müssen wie zuvor mit Hochwürden Tibor.
Der Papst faltete die Hände und sah zu dem gequälten Gesicht Jesu am Kreuz auf. Ehrfürchtig flehte er den Sohn Gottes um Führung an. Valendrea war offensichtlich aus einem ganz bestimmten Grund zum Papst auserwählt worden. Auch bei seiner Entscheidung für den Namen Petrus II. war er einer Art Eingebung gefolgt. Vor dem heutigen Tag hatte er all das seinem eigenen Ehrgeiz zugute gehalten. Doch inzwischen wusste er es
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