Urbi et Orbi
stand Maurice Kardinal Ngovi, die Arme unter einer purpurroten Soutane verschränkt. Er hatte schlanke Hüften und das wettergegerbte Gesicht eines Menschen, der sich alle s h art erkämpft hat. Sein drahtiges, schütteres Haar war grau, und seine Augen blickten aufmerksam und besorgt durch die Gläser einer Drahtbrille. Mit zweiundsechzig Jahren war Ngovi schon Erzbischof von Nairobi und der ranghöchste afrikanische Kardinal. Er trug den Bischofstitel nicht nur ehrenhalber, sondern hatte bis vor wenigen Jahren das größte katholische Bistum Schwarzafrikas aktiv geleitet.
Sein alltägliches Eingebundensein in die Bistumsarbeit fand allerdings ein Ende, als Clemens XV. ihn als Leiter der Kongregation für das katholische Bildungswesen nach Rom berief. Nun befasste Ngovi sich mit allen Aspekten der katholischen Erziehung und Bildung und arbeitete eng mit Bischöfen und Priestern zusammen, um sicherzustellen, dass alle katholischen Schulen, Universitäten und Seminare im Sinne des Heiligen Stuhls lehrten. In früheren Jahrzehnten war diese Kongregation wegen ihres damaligen Konfrontationskurses außerhalb Italiens recht verhasst gewesen, doch das änderte sich durch den Geist der Erneuerung des Zweiten Vatikanischen Konzils – und durch Männer wie Ngovi, die gut vermitteln konnten, ohne an Durchsetzungsfähigkeit einzubüßen.
Sein engagiertes Arbeitsethos und seine einnehmende Persönlichkeit waren zwei Gründe, aus denen Clemens Ngovi ernannt hatte. Ein anderer war sein Wunsch, diesen brillanten Kardinal einem weiteren Kreis bekannt zu machen. Vor sechs Monaten hatte Clemens dem Afrikaner außerdem noch den Titel des Camerlengo verliehen. Das bedeutete, dass Ngovi nach Clemens ’ Tod während der zwei Wochen bis zum Beginn der Papstwahl den Heiligen Stuhl verwalten würde. Es war eine überwiegend zeremonielle Funktion, aber dennoch wichtig, da Ngovi dadurch beim nächsten Konklave eine Schlüsselposition einnehmen würde.
Michener und Clemens hatten sich mehrmals über di e n ächste Papstwahl unterhalten. Wenn man aus der Geschichte etwas lernen konnte, wäre die ideale Besetzung ein allseits geschätzter Mann mit Erfahrung in der Kurie – vorzugsweise der Erzbischof eines Landes, das keine Weltmacht war. Nach drei fruchtbaren Jahren in Rom besaß Maurice Ngovi all diese Eigenschaften, und Kardinäle aus der Dritten Welt stellten immer wieder dieselbe Frage: War die Zeit für einen farbigen Papst gekommen?
Michener näherte sich dem Eingang der Riserva. Drinnen stand Clemens XV. vor einem alten Schließfach, das schon Napoleons Plünderungen miterlebt hatte. Die doppelte Eisentür war geöffnet und ließ bronzene Schubladen und Fächer erkennen. Clemens hatte eine der Schubladen aufgezogen. Darin war eine hölzerne Schatulle zu sehen. Der Papst hielt ein Blatt Papier in seiner zitternden Hand. Michener wusste, dass Schwester Lucias Originalschrift noch immer in der Schatulle aufbewahrt wurde. Dort lag aber auch eine italienische Übersetzung der ursprünglichen portugiesischen Botschaft, die Johannes XXIII. bei seiner ersten Lektüre im Jahr 1959 hatte anfertigen lassen. Der Priester, der diese Aufgabe ausgeführt hatte, war ein junger Mitarbeiter des Staatssekretariats gewesen.
Hochwürden Andrej Tibor.
Michener hatte im Archiv Tagebücher von Mitarbeitern der Kurie gelesen, die von dem Vorgang berichteten. Hochwürden Tibor hatte die Übersetzung Papst Johannes XXIII. persönlich übergeben. Dieser hatte die Botschaft gelesen und dann angeordnet, sie in der Holzschatulle zusammen mit dem Original versiegeln zu lassen.
Nun war Clemens XV. auf der Suche nach Andrej Tibor.
»Das ist beunruhigend«, flüsterte Michener, den Blick noch immer auf Clemens geheftet.
Kardinal Ngovi stand neben ihm, erwiderte aber nichts. Dann griff er Michener am Arm und führte ihn zu einer Regalreihe. Ngovi war einer der wenigen Menschen im Vatikan, dem Clemens und er völlig vertrauten.
»Was machen Sie hier?«, fragte er Ngovi.
»Ich wurde hierher beordert.«
»Ich dachte, Clemens sei heute Abend im North American College.« Michener flüsterte immer noch.
»War er auch, aber er ist dort unvermittelt aufgebrochen. Er rief mich vor einer halben Stunde an und bat mich, ihn hier zu treffen. «
»Jetzt ist er schon zum dritten Mal in zwei Wochen da drinnen. Es muss doch langsam auffallen.«
Ngovi nickte. »Zum Glück ist in diesen Safe alles Mögliche eingeschlossen. Man kann also nicht genau wissen, was er dort sucht.
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