Urbi et Orbi
Tiefe, unkontrollierbare Leidenschaft.«
»Und was sagst du jetzt Valendrea? «
Sie seufzte. »Ich habe keine Wahl. Ich muss es tun. «
Er kicherte. »Eine Wahl gibt es immer. Lass mich raten: Diese Reise eröffnet dir eine zweite Chance mit Colin Michener?«
Inzwischen war ihr klar, dass sie Tom Kealy viel zu viel von sich erzählt hatte. Er hatte ihr versichert, dass er niemals etwas verraten würde, doch sie machte sich Sorgen. Gewiss, Micheners Fehltritt lag lange zurück, aber jede Enthüllung, ob zutreffend oder nicht, würde ihn seine Karriere kosten. So sehr sie Micheners damals gefällte Entscheidung auch hasste, sie würde nie etwas von ihrer Beziehung verraten.
Sie verharrte eine Weile reglos und sah zur Decke hinauf. Valendrea hatte von einem Problem gesprochen, das Micheners Karriere beschädigen könnte. Wenn sie also gleichzeitig Michener und sich selbst helfen konnte, warum eigentlich nicht?
»Ich reise.«
»Du begibst dich in eine Schlangengrube«, sagte Kealy gut gelaunt. »Aber du hast das Zeug, dich mit dem Teufel anzulegen. Und ein Teufel ist Valendrea wirklich, das kannst du mir glauben. Er ist von Ehrgeiz zerfressen, ein richtiges Schwein.«
»Damit solltest du dich ja auskennen.« Sie konnte der Versuchung nicht widerstehen.
Er strich mit der Hand über ihr nacktes Bein. »Vielleicht. Wie mit so einigem anderen. «
Seine Arroganz war unglaublich. Er schien sich durch nichts aus der Fassung bringen zu lassen – weder durch die Anhörung vor den ernst dreinblickenden Prälaten am Vormittag, noch durch den drohenden Verlust seines Priesterkragens. Hatte gerade diese Dreistigkeit sie anfangs angezogen? Egal, Kealy wurde ihr langsam lästig. Sie fragte sich, ob der Priesterberuf ihm eigentlich jemals etwas bedeutet hatte. Micheners religiöse Hingabe fand sie bewundernswert, auf Tom Kealys Loyalität konnte man nicht bauen. Aber sie hatte kein Recht, ihn zu verurteilen. Aus purem Eigennutz hatte sie sich ihm angeschlossen, und das hatte er gewiss erkannt und ausgenutzt. Doch all das würde sich nun vielleicht ändern. Sie hatte eine Unterredung mit dem Kardinalstaatssekretär gehabt und eine Aufgabe erhalten, die große Chancen mit sich brachte. Und wie Valendrea ganz richtig gesagt hatte: Vielleicht käme es wirklich dazu, dass sie wieder mit all den großen Zeitungsverlagen zusammenarbeiten könnte, die sie fallen gelassen hatten.
Sie spürte ein merkwürdiges Kribbeln im Körper.
Die unerwarteten Vorfälle an diesem Abend waren das reinste Aphrodisiakum. Wunderbare Zukunftsbilder schwirrten ihr durch den Kopf. Diese Hoffnungen ließen den gerade genossenen Sex im Nachhinein besonders befriedigend erscheinen – und umso verlockender erschien ihr nun der nächste Gang.
10
Turin, Italien
Donnerstag, 9. November
10.30 Uhr
M ichener spähte durch das Fenster des Hubschraubers auf die unter ihm liegende Stadt. Die helle Morgensonne befreite die Luft allmählich vom Nebel, der noch als dünne, ausgefranste Decke über den Dächern Turins lag. Dahinter breitete sich das Piemont aus, dieses italienische Gebiet, das an Frankreich und an die Schweiz grenzte und dessen fruchtbare Ebene von Alpengipfeln und -gletschern und dem Meer eingeschlossen war.
Clemens saß neben ihm, gegenüber zwei Leibwächter. Der Papst war in den Norden gereist, um das Grabtuch Jesu zu segnen, bevor es wieder weggeschlossen und versiegelt wurde. Die Ausstellung des Tuches hatte unmittelbar nach Ostern begonnen, und Clemens hätte eigentlich gleich zur Eröffnung kommen sollen, doch ein vorher vereinbarter Staatsbesuch in Spanien hatte Vorrang gehabt. Daher sollte Clemens nun zum Abschluss der Ausstellung dem Tuch seine Verehrung erweisen, wie die anderen Päpste es in den vergangenen Jahrhunderten getan hatten.
Der Hubschrauber ging in eine Linkskurve und verlor langsam an Höhe. Unter ihnen auf der Via Roma staute sich der Vormittagsverkehr, und die Piazza San Carlo war ebenso verstopft. Turin war eine Industriestadt in europäischer Tradition, in der vor allem Autofirmen ansässig waren. Es gab durchaus Ähnlichkeiten mit vielen Städten, die Michener aus seiner Kindheit im Süden Georgias kannte, wo die Papierindustrie vorherrschte.
Der Duomo San Giovanni kam in Sicht, seine hohen Glockentürme waren von Nebelschwaden umhüllt. Dieser Johannes dem Täufer geweihte Dom war im fünfzehnten Jahrhundert errichtet worden, doch erst seit dem siebzehnten Jahrhundert wurde das Leichentuch Jesu dort
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