Urbi et Orbi
Gesprächspartners nicht bei dem altersschwachen Papst, und der Mann empfand auch nicht das Bedürfnis, seine Feindseligkeit vor einem amerikanischen Monsignore zu verbergen, der mit Sicherheit seinen Job los war, sobald der Vikar Christi starb. Nein, er war eher dabei sich auszumalen, was sein Prälat für ihn tun konnte. Ähnlich wie Michener vor zwei Jahrzehnten, als ein deutscher Bischof Gefallen an einem schüchternen Seminaristen gefunden hatte.
»Wenn alles plangemäß verläuft, bleibt der Papst zum Mittagessen. Im Moment sind wir sogar etwas früher dran. Haben Sie die Liste mit seinen Speisewünschen erhalten?«
Ein ganz leichtes Nicken. »Es ist alles nach Wunsch.«
Clemens schätzte die italienische Küche nicht besonders, eine Tatsache, die der Vatikan möglichst nicht an die Öffentlichkeit durchsickern ließ. Offiziell hieß es dazu nur, die Essgewohnheiten des Papstes seien seine Privatsache und hätten nichts mit seinem Amt zu tun.
»Sollen wir hineingehen?«, fragte Michener.
In letzter Zeit hatte er wenig Lust, über Kirchenpolitik zu diskutieren, da ihm bewusst war, dass seine Meinung mit Clemens ’ schlechterem Gesundheitszustand immer mehr an Gewicht verlor.
Er schritt in den Dom voran, und der Priester, über den er sich noch immer ärgerte, folgte ihm. Offensichtlich war er für heute sein Schutzengel.
Clemens stand in der Vierung des Doms, wo eine rechteckige Glasvitrine von der Decke herabhing. Darin sah man, von einem indirekten Licht erhellt, ein vergilbtes, grauweißes, etwa vier Meter langes Leinentuch. Darauf war der schwach e A bdruck eines flach auf dem Rücken liegenden Mannes zu sehen. Vorder- und Rückteil des Abdrucks liefen am Kopf zusammen, so als hätte man eine Leiche auf das Tuch gelegt und sie dann vom Kopf her zugedeckt. Er trug einen Bart, das zottige Haar hing ihm über die Schultern, und die Hände waren sittsam über dem Schritt gekreuzt. An Kopf und Handgelenken waren Wunden unübersehbar. Die Brust wies einen Stich auf, der Rücken war von Geiselhieben übersät.
Es war reine Glaubenssache, ob man das Tuch als Abbild Jesu ansah. Michener persönlich konnte nur schwer glauben, dass ein Stück Leinentuch in Fischgrätbindung zweitausend Jahre überstanden haben sollte. Mit dieser Reliquie ging es ihm ähnlich wie mit den Marienerscheinungen in Fatima, mit denen er sich jetzt schon monatelang befasste.
Er hatte die Berichte eines jeden dieser vermutlichen oder vermeintlichen Seher studiert, die behaupteten, Besuch aus dem Himmel erhalten zu haben. In den meisten Fällen stießen die päpstlichen Untersuchungsbeauftragten auf einen Irrtum, eine Halluzination oder die Manifestation psychischer Probleme. Manchmal war es einfach nur ein dummer Scherz. Doch es gab etwa zwei Dutzend Vorfälle, deren Glaubwürdigkeit die Beauftragten trotz aller Mühe nicht erschüttern konnten. Nachdem andere Erklärungen ausgeschlossen worden waren, musste man schließlich von Erscheinungen der Mutter Gottes ausgehen. Diese Erscheinungen wurden von der Kirche anerkannt.
Wie Fatima.
Aber ganz ähnlich wie bei dem vor ihm hängenden Grabtuch war diese Glaubwürdigkeit eben Glaubenssache.
Clemens betete ganze zehn Minuten vor dem Tuch. Michener bemerkte, dass sie nun hinter den Zeitplan zurückfielen, doch keiner wagte es, den Papst zu unterbrechen. Die Versammlung stand schweigend da, bis der Papst sich erhob, sich bekreuzigte und Kardinal Bartolo in die schwarze Marmorkapelle folgte. Offensichtlich wollte der Kardinal mit dem eindrucksvollen Raum prunken.
Die Besichtigung dauerte beinahe eine halbe Stunde, länger als geplant, da Clemens Fragen stellte und darauf bestand, das gesamte Personal des Doms persönlich zu begrüßen. Nun hatten sie allmählich wirklich Verspätung, und Michener war erleichtert, als Clemens sein Gefolge schließlich zum Essen in ein Nebengebäude führte.
Vor dem Speisesaal blieb der Papst stehen und wandte sich an Bartolo. »Gibt es einen Raum, wo ich mich kurz ungestört mit meinem Sekretär unterhalten kann?«
Der Kardinal zeigte ihnen einen fensterlosen Nebenraum, der offensichtlich als Umkleidekammer diente. Nachdem die Tür geschlossen war, griff Clemens in seine Soutane und zog einen taubenblauen Umschlag hervor. Michener erkannte das private Briefpapier des Papstes. Er hatte es selbst in Rom gekauft und Clemens letzte Weihnachten geschenkt.
»Das ist der Brief, den Sie für mich nach Rumänien bringen sollen. Sollte Hochwürden Tibor meiner
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