Urbi et Orbi
kommen. Alle Ernennungen endeten mit dem Tod eines Papstes. Es hing ausschließlich von der Entscheidung des nächsten Vikar Christi ab, ob eine Person ihr Amt behielt, und Valendrea wusste, dass der derzeitige Archivar an seiner Position hing.
Er traf ihn hinter seinem Schreibtisch an, in seine Arbeit vertieft. Valendrea betrat das große Büro gelassen und schloss die Flügel einer Bronzetür hinter sich.
Der Kardinal blickte auf, sagte aber nichts. Der Mann ging auf die siebzig zu, hatte schwere Wangen und eine ausgeprägte, aber fliehende Stirn. Er war Spanier von Geburt, hatte aber sein ganzes Leben als Geistlicher in Rom verbracht.
Das Kardinalskollegium war dreifach unterteilt. Die Kardinalbischöfe hatten einen römischen Bischofssitz inne. Die Kardinalpriester standen den Diözesen außerhalb Roms vor, und die Kardinaldiakone gehörten der Verwaltung der Kurie an. Der Archivar war der ranghöchste Kardinaldiakon und hatte als solcher nach einem Konklave die Ehre, den Namen des neu gewählten Papstes vom Balkon des Petersdoms zu verkünden. Doch dieses Privileg interessierte Valendrea nicht. Was diesen alten Mann für ihn wichtig machte, war vielmehr sein Einfluss auf eine Hand voll Kardinaldiakone, die sich noch immer nicht festgelegt hatten, wen sie im Konklave unterstützen würden.
Valendrea trat auf den Schreibtisch zu und bemerkte, dass sein Gastgeber nicht aufstand, um ihn zu begrüßen. »So schlimm ist es doch gar nicht«, reagierte der Staatssekretär auf den Blick, mit dem er empfangen wurde.
»Wer weiß. Der Papst ist vermutlich noch in Turin?«
»Wäre ich sonst hier?«
Der Archivar stieß einen vernehmbaren Seufzer aus.
»Ich möchte, dass Sie die Riserva und das Schließfach für mich öffnen«, erklärte Valendrea.
Nun stand der alte Mann endlich doch auf. »Das muss ich ablehnen.«
»Das wäre unklug.« Diese Botschaft würde sein Gegner hoffentlich verstehen.
»Mit Drohungen können Sie einen direkten päpstlichen Befehl nicht unwirksam machen. Nur der Papst darf die Riserva betreten. Sonst keiner. Nicht einmal Sie.«
»Keiner braucht davon zu erfahren. Es geht schnell.«
»Mein Eid als Archivar und mein Gelübde als Priester bedeuten mir mehr, als Ihnen klar zu sein scheint.«
»Hören Sie mir zu, alter Mann. Ich bin in einer Mission hier, die für die Kirche von größter Bedeutung ist. Daher muss ich zu außergewöhnlichen Maßnahmen greifen.« Das war eine Lüge, aber sie klang gut.
»Dann haben Sie gewiss nichts dagegen einzuwenden, dass der Heilige Vater zuvor seine Erlaubnis erteilt. Ich kann ihn in Turin anrufen.«
Der Moment der Wahrheit war gekommen. »Ich besitze eine eidliche Erklärung Ihrer Nichte. Sie hat sie uns bereitwillig gegeben. Sie schwört vor dem Allmächtigen, dass Sie ihrer Tochter die Sünde einer Abtreibung vergeben haben. Kann das denn sein, Eminenz? Das ist Häresie.«
»Ich weiß Bescheid über die eidliche Erklärung. Ihr Ambrosi ist mit der Familie meiner Schwester nicht gerade zimperlich umgesprungen. Ich habe die junge Frau von ihrer Sünde freigesprochen, weil sie im Sterben lag und sich vor der Hölle fürchtete. Ich habe sie mit der Gnade Gottes getröstet, wie es einem Priester ansteht. «
»Für meinen Gott … Ihren Gott … ist eine Abtreibung unverzeihlich. Abtreibung ist Mord. Sie hatten kein Recht, diese Sünde zu vergeben. Ein Punkt, in dem gewiss auch der Heilige Vater mir zustimmen müsste.«
Das Gesicht des alten Mannes schien noch abweisender zu werden, doch gleichzeitig begann sein linkes Auge, nervös zu zucken – vielleicht zeigte sich hier doch Unsicherheit.
Die zur Schau gestellte Tapferkeit des Kardinal-Archivars beeindruckte Valendrea nicht besonders. Dieser Mann hatte sein ganzes Leben damit zugebracht, Akten von einem Stoß zum anderen zu räumen, idiotische Vorschriften durchzusetzen und jedem einen Knüppel zwischen die Beine zu werfen, der kühn genug war, den Heiligen Stuhl herauszufordern. Er war der letzte in einer langen Reihe von Scriptoren , die ihr ganzes Leben lang nichts anderes getan hatten, als für die Sicherheit der Päpstlichen Archive zu sorgen. Wenn sie auf ihrem schwarzen Thron saßen, diente schon ihre Anwesenheit in den Archiven als Warnung, dass allein der Zutritt zu den Archiven nicht automatisch dazu berechtigte, sich alles ansehen zu können. Wie bei archäologischen Ausgrabungen waren Erkenntnisse nur von sorgfältigen Erkundungen der tieferen Schichten zu erwarten. Die aber erforderten
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