Urbi et Orbi
zweiten Bündel. » Anscheinend hat die Botschaft noch eine zweite Seite. « Paul entfaltete die Blätter. Wieder war das eine Papier unübersehbar neuer als das andere. » Wieder Portugiesisch. « Paul warf einen Blick auf das zweite Blatt. » Ah ja, Italienisch. Noch eine Übersetzung. «
Valendrea beobachtete den Papst beim Lesen und merkte, dass dessen Gesichtsausdruck erst Verwirrung und dann tiefe Sorge zeigte. Flach atmend, die Stirn in tiefe Falten gelegt, las Paul die Übersetzung ein zweites Mal.
Der Papst sagte kein Wort. Auch Valendrea schwieg. Er wagte nicht, Paul zu bitten, ihn die Seite lesen zu lassen.
Der Papst las die Botschaft zum dritten Mal.
Er fuhr sich mit der Zunge über die rissigen Lippen und rutschte unruhig auf seinem Stuhl hin und her. Die Züge des alten Mannes zeigten einen Ausdruck tiefen Erstaunens. Einen Moment lang bekam Valendrea Angst. Dies hier war der erste Papst, der die Welt bereist hatte. Ein Mann, der einer Armee von fortschrittsbesessenen Katholiken entgegengetreten war und ihre revolutionären Ideen gemäßigt hatte. Er hatte vor den Vereinten Nationen gestanden und die Wort e » Nie wieder Krieg « gesprochen. Er hatte Geburtenkontrolle als Sünde angeprangert und sich einem Proteststurm gestellt, der die Kirche bis ins Fundament erschütterte. Er hatte di e T radition des Priesterzölibats bestätigt und Abweichler exkommuniziert. Er war einem Attentat auf den Philippinen entgangen, hatte sich nicht von Terroristen einschüchtern lassen und die Bestattung seines Freundes, des italienischen Premierministers, persönlich zelebriert. Dieser Papst war ein entschlossener Mann und nicht so leicht zu erschüttern. Und doch hatte etwas in der gerade beendeten Lektüre ihn aus der Passung gebracht.
Der Papst faltete die Blätter wieder zusammen, legte beide Papierbündel in die hölzerne Schatulle und knallte den Deckel zu.
» Stellen Sie das zurück « , murmelte er, den Blick gesenkt. Ein paar rote Siegelwachskrümel waren auf seine weiße Soutane gefallen. Paul wischte sie weg, als wären sie ansteckend . » Ich habe einen Fehler gemacht. Ich hätte nicht hierher kommen sollen. « Dann schien der Papst sich jedoch zusammenzureißen und gewann seine Fassung zurück. » Wenn Sie mich nach oben begleitet haben, habe ich einen Befehl für Sie. Ich möchte, dass Sie diese Schatulle persönlich neu versiegeln. Danach wird niemand mehr diesen Raum betreten, unter Strafe der Exkommunikation. Ohne jede Ausnahme. «
D ieser Befehl galt allerdings nicht für den Papst, dachte Valendrea. Clemens XV. konnte die Riserva jederzeit betreten.
Und genau das hatte der Deutsche getan.
Valendrea wusste schon seit Jahren, dass es eine italienische Übersetzung der Niederschrift Schwester Lucias gab, doch erst seit gestern kannte er den Namen des Übersetzers.
Der Geistliche Andrej Tibor.
Drei Fragen gingen ihm durch den Kopf.
Was veranlasste Clemens XV. immer wieder in die Riserv a z u kommen? Warum wollte der Papst Kontakt mit Tibor aufnehmen? Und wichtiger noch, was wusste dieser Übersetzer?
Im Moment waren alle diese Fragen offen.
Doch vielleicht würde er ja in den nächsten Tagen durch Colin Michener, Katerina Lew und Ambrosi die Antworten erhalten.
Zweiter Teil
14
Bukarest, Rumänien
Freitag, 10. November
11.15 Uhr
M ichener stieg die Metalltreppe hinab und betrat den ölverschmierten Asphalt des Otopeni-Flughafens. Sein Linienflug von Rom war nur zur Hälfte besetzt gewesen, dabei war British Airways nur eine von vier Gesellschaften, die diesen Flughafen überhaupt anflogen. Er hatte Rumänien schon einmal besucht, als er unter Kardinal Volkner im Staatssekretariat arbeitete. Damals war er in der Abteilung für Internationale Beziehungen mit den diplomatischen Kontakten zu verschiedenen Staaten befasst gewesen.
Der Vatikan und die rumänische Kirche hatten im Gefolge des Zweiten Weltkriegs wegen der Übertragung katholischen Eigentums an die orthodoxe Kirche einen jahrzehntelangen Streit geführt. Es ging dabei unter anderem um Klöster, die früher zu Rom gehört hatten. Mit dem Fall des Kommunismus wurde die Religionsfreiheit wiederhergestellt, doch der alte Eigentumsstreit blieb bestehen, und Katholiken und Orthodoxe waren mehrmals heftig aneinander geraten. Nach Ceau º escus Sturz hatte Johannes Paul II. einen Dialog mit der rumänischen Regierung eröffnet und dem Land einen offiziellen Besuch abgestattet. Allerdings tat sich nur langsam etwas. Michener war
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