Urbi et Orbi
zugestimmt. Im Nachbardorf der Papstvilla wohnten nur etwa dreitausend Menschen, aber sie hingen ganz besonders an ihrem Pontifex, und solche Stippvisiten waren eine Art Dankeschön des Papstes.
Nach ihrem Gespräch am vorangegangenen Nachmittag hatte Michener den Papst erst wieder am Morgen gesehen. Clemens XV. liebte die Menschen und gute Gespräche, doch er war und blieb auch Jakob Volkner, ein zurückhaltender Mensch, der gern mit sich allein war. Daher war es nicht überraschend, dass Clemens es vorgezogen hatte, den Abend für sich alleine zu bleiben. Er hatte gebetet, gelesen und war früh zu Bett gegangen.
Vor einer Stunde hatte Michener eine päpstliche Anweisung an einen der Seher von Medjugorje aufgesetzt, in der er diesen bat, das so genannte zehnte Geheimnis aufzuschreiben, und Clemens hatte das Dokument unterzeichnet. Michener war immer noch nicht scharf auf diese Reise nach Bosnien und konnte nur hoffen, dass sie nicht lange dauern würde.
Die Fahrt ins Dorf dauerte nur ein paar Minuten. Der Dorfplatz war gerammelt voll, und die Menge jubelte, während der Papstwagen langsam vorbeirollte. Clemens schien sich in dieser Atmosphäre zu beleben und winkte zurück. Manchmal zeigte er auf ein bekanntes Gesicht und grüßte mit deutlichen Lippenbewegungen.
»Es ist gut, dass sie ihren Papst lieben«, sagte Clemens leise auf Deutsch. Seine Aufmerksamkeit galt noch immer der Menge, und er stand da, die Hand um den Haltegriff aus rostfreiem Stahl gelegt.
»Sie geben ihnen keine Veranlassung, Sie nicht zu lieben«, gab Michener zurück.
»Das sollte jedem Papst wichtig sein.«
Der Wagen fuhr eine Runde über den Platz.
»Bitten Sie den Fahrer anzuhalten«, sagte der Papst.
Michener klopfte zweimal an die Trennscheibe. Der Wagen hielt, und Clemens entriegelte die Panzerglastür. Er setzte den Fuß aufs Pflaster des Dorfplatzes, und die vier Leibwächter, die den Wagen begleiteten, waren sofort hellwach.
»Halten Sie das für klug?«, fragte Michener.
Clemens blickte auf: »Unbedingt.«
Es war nicht vorgesehen, dass der Papst das Papamobil verließ. Dieser Besuch war zwar erst am Vortag festgelegt worden, doch seitdem war genug Zeit verstrichen, um Anlass zur Sorge zu haben.
Clemens ging mit ausgestreckten Armen auf die Menge zu. Kinder griffen nach seinen welken Händen, und er umarmte sie und zog sie an sich. Michener wusste, wie sehr Clemens es bedauerte, keine eigenen Kinder zu haben. Er liebte Kinder.
Die Leibwächter umringten den Papst, doch die Dorfbewohner hielten sich ehrerbietig zurück und entschärften dadurch die Situation. Viele riefen das traditionelle Viva, Viva , mit dem die Päpste seit Jahrhunderten begrüßt wurden.
Michener sah einfach nur zu. Clemens XV. verhielt sich so wie seine Vorgänger seit zweitausend Jahren. Du bist Petrus, und auf diesen Felsen werde ich meine Kirche bauen, und die Mächte der Unterwelt werden sie nicht überwältigen. Ich werde dir die Schlüssel des Himmelreichs geben; was du auf Erden binden wirst, das wird auch im Himmel gebunden sein, und was du auf Erden lösen wirst, das wird auch im Himmel gelöst sein. Zweihundertsiebenundsechzig Männer bildeten die Glieder einer ununterbrochenen Kette, die bei Petrus begann und bei Clemens XV. endete. Vor sich sah Michener das perfekte Beispiel eines Oberhirten, der von seiner Herde umgeben war.
Ein Absatz des Geheimnisses von Fatima zuckte ihm durch den Kopf:
Der Heilige Vater ging durch eine große Stadt, die halb zerstört war, und halb zitternd mit wankendem Schritt, von Schmerz und Sorge gedrückt, betete er für die Seelen der Leichen, denen er auf seinem Weg begegnete. Am Berg angekommen, kniete er zu Füßen des großen Kreuzes nieder. Da wurde er von einer Gruppe von Soldaten getötet, die mit Feuerwaffen und Pfeilen auf ihn sch oss en.
Diese Ankündigung von Gefahr mochte erklären, warum Johannes XXIII. und seine Nachfolger die Botschaft zurückgehalten hatten. Doch 1981 hatte ein von Russland bezahlter Attentäter einen Anschlag auf Johannes Paul II. unternommen. Kurz darauf, noch in der Genesungszeit, hatte Johannes Paul das Geheimnis von Fatima zum ersten Mal gelesen. Warum aber hatte er neunzehn Jahre gewartet, bevor er die Worte der Jungfrau endlich der Öffentlichkeit preisgab? Eine gute Frage. Die konnte er der wachsenden Liste unbeantworteter Fragen hinzufügen. Er beschloss, nicht mehr darüber nachzudenken. Stattdessen sah er zu, wie Clemens die Menge genoss, und all seine Ängste
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