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Urbi et Orbi

Urbi et Orbi

Titel: Urbi et Orbi Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: berry
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Jahrhunderten traten. Länger als ein Jahrzehnt hatte er keine Messe mehr gelesen. Er war einfach zu sehr mit den weltlichen Bürden beschäftigt gewesen, die man ihm auflud. Jetzt aber verspürte er den Drang, eine Totenmesse zu Ehren des alten Priesters zu zelebrieren.
    Schweigend legte er die Gewänder an. Dann wählte er eine schwarze Stola, legte sie über die Schultern und ging zum Altar. Unter normalen Umständen stünde jetzt der Sarg vor dem Altar und in den Kirchenbänken säßen die Freunde und Verwandten. Es ging darum, die Gemeinschaft mit Christus zu festigen, die letztendlich die Gemeinschaft der Heilige n w ar. Am Tag des Jüngsten Gerichts würden alle sich wiedersehen und für immer im Haus des Herrn wohnen.
    So verkündete es zumindest die Kirche.
    Doch während Michener die vorgeschriebenen Gebete sprach, konnte er sich der Frage nicht erwehren, ob nicht alles umsonst war. Gab es wirklich ein höheres Wesen, das die ewige Erlösung im Angebot hatte? Und konnte man sich diesen Lohn einfach durch treue Befolgung der Kirchengebote verdienen? Genügten ein paar Sekunden Reue, um die Missetaten eines ganzen Lebens zu vergeben? Erwartete Gott da nicht mehr? Erwartete er nicht ein Leben voller Opfer? Keiner war vollkommen, Ausrutscher würde es immer geben, aber für die Erlösung war sicherlich mehr nötig als ein paar Reuerituale.
    Er wusste nicht recht, wann seine Zweifel begonnen hatten. Vielleicht damals vor vielen Jahren, als er mit Katerina zusammen war. Oder hatten vielleicht all die ehrgeizigen Prälaten, mit denen er ständig zusammen war, seinen Glauben erschüttert, die Art, wie sie öffentlich ihre Liebe zu Gott erklärten, sich insgeheim jedoch vor Machtgier und Neid verzehrten? Wieso sollte man eigentlich auf die Knie niederfallen und den Papstring küssen? Jesus hatte seine Überlegenheit niemals zur Schau gestellt. Warum war dann seinen Nachfolgern dieses Privileg gestattet?
    Oder waren seine Zweifel vielleicht einfach Ausdruck der Zeit, in der er lebte?
    Die Welt war nicht mehr dieselbe wie vor hundert Jahren. Alle schienen mit allen verbunden zu sein. Man kommunizierte in Sekundenschnelle über riesige Entfernungen. Man wurde mit Informationen überschwemmt. Gott schien da einfach nicht mehr hineinzupassen. Vielleicht kam man einfach zur Welt, lebte und starb, und dann zerfiel der Körper wieder zu Staub. Erde zu Erde, Staub zu Staub, wie es in der Liturgi e h ieß. Mehr nicht. In diesem Fall gäbe es vielleicht keinen anderen Lohn als das erfüllte Leben selbst – und nur in der Erinnerung an das gelebte Leben läge Heil.
    Michener hatte sich ausführlich genug mit der römischkatholischen Kirche beschäftigt, um zu wissen, dass der Großteil ihrer Lehren weniger den Gläubigen diente als vielmehr den unmittelbaren Interessen der Kirche selbst. Die Grenze zwischen nützlich und gottgefällig war im Laufe der Zeit verwischt worden. Was Menschen sich überlegt hatten, war irgendwann zum himmlischen Gesetz geworden. Priester lebten zölibatär, weil Gott es so befohlen hatte. Nur Männer wurden zu Priestern, weil Jesus ein Mann gewesen war. Adam und Eva waren ein Mann und eine Frau gewesen, also konnte es nur zwischengeschlechtliche Liebe geben. Woher kamen diese Dogmen? Warum bestanden sie fort?
    Und warum zweifelte er sie jetzt an?
    Er versuchte, das Gedankenkarussell anzuhalten und sich wieder auf die Messfeier zu konzentrieren, doch das war unmöglich. Vielleicht war die Begegnung mit Katerina schuld daran, dass er nun wieder zweifelte. Oder hatte der sinnlose Tod eines alten Mannes in Rumänien ihm wieder vor Augen geführt, dass er inzwischen siebenundvierzig war und in seinem Leben bisher kaum mehr geleistet hatte, als sich huckepack von einem deutschen Bischof in den Apostolischen Palast tragen zu lassen?
    Er musste mehr aus seinem Leben machen. Produktiv werden. Etwas tun, was nicht nur ihm selbst zugute kam.
    Eine Bewegung bei der Tür ließ ihn aufschauen. Er erblickte Clemens, der in die Kapelle trat und sich in einer der Bankreihen niederkniete.
    »Bitte, fahren Sie fort. Auch mich drängt es«, sagte der Papst und senkte den Kopf zum Gebet.
    Michener kehrte an den Altar zurück und vollzog die heilige Wandlung. Er hatte nur eine Hostie mitgebracht, und so brach er die ungesäuerte Brotoblate in zwei Teile.
    Er trat zu Clemens hin.
    Der alte Mann blickte aus seinem Gebet auf, die Augen vom Weinen gerötet, das Gesicht von Trauer verschleiert. Michener staunte, wie tief der

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