Urbi et Orbi
war er gerne hier gewesen, doch jetzt kam er sich vor wie ein Eindringling.
Die Räumlichkeiten waren genauso, wie Clemens sie Samstag früh zurückgelassen hatte. Das Bett war gemacht, die Vorhänge aufgezogen, die Ersatzlesebrille des Papstes lag noch immer auf dem Nachttisch. Die ledergebundene Bibel, die sonst immer auf dem Nachttisch lag, befand sich noch in Castel Gandolfo auf dem Schreibtisch neben dem Notebook. Beides würde bald nach Rom zurückgebracht werden.
Neben dem ausgeschalteten PC lagen ein paar Unterlagen. Vielleicht war es am besten, hier anzufangen, und so startete Michener den Computer und überprüfte die Ordner. Er wusste, dass Clemens mit einigen entfernten Verwandten und ein paar Kardinälen in einem regelmäßigen E-Mail-Austausch stand, doch offensichtlich hatte der Papst keine dieser Mails aufbewahrt – es wurden keine angezeigt. Im Adressbuch standen etwa zwei Dutzend Namen. Er überprüfte alle Ordner auf der Festplatte. Die meisten waren Berichte aus Abteilungen der Kurie, die dem binären Code mehr vertrauten als Papier und Tinte. Mit Hilfe eines Spezialprogramms, das sämtliche Spuren von der Festplatte tilgt, löschte er alle Dateien und schaltete den Computer wieder aus. Das Gerät würde da bleiben und dem nächsten Papst zur Verfügung stehen.
Michener sah sich um. Er würde Transportkartons für Clemens ’ Sachen finden müssen, doch vorläufig stapelte er alles in der Mitte des Zimmers. Viel war es ja nicht. Clemens hatte ein bescheidenes Leben geführt. Ein paar Möbelstücke, ein paar Bücher und einige Familienandenken, mehr besaß er nicht.
Ein Schlüssel drehte sich im Schloss und riss Michener aus seinen Gedanken.
Die Tür ging auf, und Paolo Ambrosi trat ein.
»Warten Sie draußen«, wies Ambrosi den Wächter an, trat ein und machte die Tür hinter sich zu.
Michener sah ihn an. »Was haben Sie hier zu schaffen?«
Der magere Priester trat vor. »Dasselbe wie Sie, die Wohnung räumen. «
»Kardinal Ngovi hat mir diese Aufgabe übertragen.«
»Kardinal Valendrea meinte, dass Sie dabei vielleicht Hilfe brauchen.«
Anscheinend hatte der Kardinalstaatssekretär ihm einen Babysitter geschickt, doch Michener war nicht nach Diskussionen zumute. »Verschwinden Sie hier.«
Der Priester rührte sich nicht. Michener war einen Kopf größer und einen halben Zentner schwerer, doch das schien Ambrosi nicht zu beeindrucken. »Ihre Zeit ist um, Michener. «
»Kann sein. Aber da, wo ich herkomme, gibt es ein Sprichwort: Man soll sich nicht über ungelegte Eier freuen. «
Ambrosi kicherte. »Ihr amerikanischer Humor wird mir fehlen.«
Michener bemerkte, wie Ambrosi seine scharfen Augen durch den Raum wandern ließ.
»Ich habe Ihnen gesagt, dass Sie verschwinden sollen. Vielleicht bin ich ein Niemand, aber Ngovi ist der Camerlengo. Valendrea kann ihn nicht einfach ignorieren. «
»Noch nicht.«
»Gehen Sie, oder ich unterbreche die Messe, um neue Instruktionen von Ngovi einzuholen.«
Ihm war klar, dass Valendrea auf gar keinen Fall eine peinliche Szene vor den Kardinälen gebrauchen konnte. Seine Unterstützer würden sich dann vielleicht fragen, warum er einen seiner Leute in die Papstwohnung geschickt hatte, wo doch diese Pflicht eindeutig dem Privatsekretär des Papstes zufiel.
Doch Ambrosi rührte sich nicht.
Also marschierte Michener um den Besucher herum zu r T ür. »Wie Sie selbst sagten, Ambrosi, meine Zeit ist vorüber. Ich habe nichts mehr zu verlieren.«
Er streckte die Hand nach dem Türgriff aus.
»Halt«, sagte Ambrosi. »Ich überlasse Sie Ihrer Aufgabe. « S eine Stimme war kaum lauter als ein Flüstern, und seine Miene war vollkommen ausdruckslos. Michener fragte sich, wie ein solcher Mann jemals hatte Priester werden können.
Michener öffnete die Tür. Die Wächter standen unmittelbar davor, und er wusste, dass sein Besucher stumm bleiben würde, um nicht ihre Neugier zu erregen. Michener setzte ein Lächeln auf und sagte: »Guten Abend, Hochwürden.«
Ambrosi rauschte an ihm vorbei, und Michener schlug die Tür hinter ihm zu, aber erst, nachdem er die Wächter angewiesen hatte, niemanden mehr hereinzulassen.
Er kehrte zum Schreibtisch zurück. Er musste weitermachen und fertig werden. Seine Wehmut darüber, den Vatikan verlassen zu müssen, wurde durch den Gedanken gelindert, dass er künftig nichts mehr mit Typen wie Paolo Ambrosi zu tun haben würde.
Er durchsuchte die Schreibtischschubladen. In den meisten lagen Briefpapier, Stifte,
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