Urbi et Orbi
habe ich die Wünsche des Himmels missachtet, diesmal aber werde ich gehorchen. Colin, Sie haben mich mehrfach gefragt, was mich belastet. Ich will es Ihnen jetzt sagen. Im Jahr 1978 entfernte Valendrea einen Teil des dritten Geheimnisses der Heiligen Jungfrau von Fatima. Nur fünf Menschen wussten, was sich ursprünglich in der Schatulle befunden hatte. Vier davon – Schwester Lucia, Johannes XXIII . Paul VI. und Hochwürden Tibor – sind tot. Als Letzter bleibt nur noch Valendrea. Natürlich wird er alles abstreiten, und was Sie hier lesen, wird man einfach als das leere Geschwätz eines Selbstmörders abtun. Aber ich sage Ihnen nun, dass Johannes Paul II. nicht das ganze dritte Geheimnis gelesen und veröffentlicht hat. Nun ist es an Ihnen, die Dinge in Ordnung z u b ringen. Reisen Sie nach Medjugorje. Das ist absolut entscheidend. Nicht nur für mich, sondern auch für die Kirche. Betrachten Sie das als die letzte Bitte eines Freundes.
Die Kirche bereitet jetzt mit Sicherheit schon meine Bestattung vor. Ngovi wird seines Amtes gut walten. Verfahrt mit meiner Leiche, wie es euch beliebt. Zeremonieller Pomp macht keinen Toten frommer. Meine persönliche Präferenz allerdings ist Bamberg. In dieser wunderschönen Stadt an der Regnitz und in ihrem Dom, den ich so sehr geliebt habe, würde ich gern meine letzte Ruhe finden. Ich bedaure nur, dass ich meine Heimatstadt nicht noch ein letztes Mal sehen konnte. Vielleicht könnte mein Vermächtnis immer noch dort sein. Doch ich überlasse diese Schlussfolgerung anderen. Gott sei mit Ihnen, Colin. Sie sollen wissen, dass ich Sie so innig geliebt habe, wie ein Vater seinen Sohn liebt.
D er Abschiedsbrief eines Selbstmörders, schlicht und ergreifend, geschrieben von einem sorgenbeladenen Mann, der offensichtlich unter Wahnvorstellungen litt. Der Pontifex Magnus der Heiligen Katholischen Kirche behauptete tatsächlich, die Heilige Jungfrau Maria habe ihn zum Selbstmord aufgefordert. Was Clemens da über Valendrea und das dritte Geheimnis geschrieben hatte, war allerdings interessant. Konnte er dieser Information Glauben schenken? Er überlegte, ob er Ngovi davon unterrichten sollte, kam aber zu dem Schluss, dass so wenige Menschen wie möglich von dieser Botschaft wissen sollten. Clemens ’ Leiche war schon einbalsamiert und seine Körperflüssigkeiten verbrannt. Die Todesursache würde niemals bekannt werden. Die Worte, die ihm auf dem Bildschirm grell ins Auge stachen, schienen seine Vermutung, dass der verstorbene Papst psychisch krank gewesen war, zu bestätigen.
Um nicht zu sagen besessen.
Clemens hatte ihn erneut dazu gedrängt, nach Bosnien zu reisen. Michener hatte nicht die Absicht gehabt, dieser Aufforderung zu folgen. Wozu auch? Er trug zwar immer noch den von Clemens unterzeichneten Brief an einen der Seher bei sich, doch jetzt lag die Autorität beim Camerlengo und dem heiligen Kardinalskollegium. Alberto Valendrea würde ihm auf gar keinen Fall gestatten, sich auf einer kleinen Spritztour nach Mariengeheimnissen umzuschauen. Warum sollte er dem Wunsch eines verstorbenen Papstes nachkommen, den er ganz offen verachtet hatte? Für eine offizielle Erlaubnis zu dieser Reise müssten außerdem alle Kardinäle über Hochwürden Tibor, Marienerscheinungen und Clemens’ obsessive Beschäftigung mit dem dritten Geheimnis von Fatima informiert werden. Was nach diesen Enthüllungen an Fragen zu erwarten wäre, würde ihn glatt umhauen. Clemens’ guter Ruf war zu kostbar, um ihn auf diese Weise aufs Spiel zu setzen. Schlimm genug, dass vier Menschen vom Selbstmord des Papstes wussten. Er würde sich gewiss nicht dazu hergeben, das Andenken dieses großen Mannes zu beflecken. Aber vielleicht war es nun doch wichtig, dass Ngovi Clemens’ letzte Worte las. Michener rief sich in Erinnerung, was Clemens ihm in Turin so nachdrücklich eingeschärft hatte: »Wenn Sie einen Vertrauten brauchen, steht Maurice Ngovi mir näher als jeder andere. Denken Sie daran, wenn es einmal nötig ist.«
Michener druckte die E-Mail aus.
Dann löschte er sie und schaltete den Computer aus.
34
Montag, 27. November
11.00 Uhr
M ichener betrat den Vatikan über den Petersplatz, vor dem ein ständiger Strom von Besuchern den Bussen entstieg. Vor zehn Tagen, unmittelbar vor Clemens ’ XV. Bestattung, hatte er seine Wohnung im Apostolischen Palast geräumt. Er besaß noch immer eine Zutrittsberechtigung, doch wenn er diese letzte Verwaltungsangelegenheit erledigt hatte, würde
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