Urbi et Orbi
Schwester Lucias in den Orkus gespült. Nun existierte nur noch die Kopie der Übersetzung. Sie lag in der Riserva. Er durfte nicht zulassen, dass irgendjemand diese Worte las. Doch um Zugang zur Schatulle zu erhalten, musste er Papst werden.
Er starrte Ambrosi an.
»Unglückseligerweise müssen Sie in den nächsten Tagen vor Ort bleiben, Paolo. Ich brauche Sie hier. Aber wir müssen wissen, was Michener in Bosnien unternimmt, und Katerina Lew ist unser bester Informationskanal. Sie müssen sie also finden und sich noch einmal ihrer Hilfe versichern.«
»Woher wissen Sie, dass sie in Rom ist?«
»Wo sollte sie sonst sein?«
36
18.15 Uhr
K aterina richtete ihre Aufmerksamkeit auf eine Tribüne von CNN, die unmittelbar vor der südlichen Kolonnade des Petersplatzes stand. Sie hatte Tom Kealy, der dort unter den hellen Scheinwerfern vor drei Kameras stand, über den Platz hinweg erkannt. Der Platz war mit den improvisierten Aufnahmesets verschiedener Fernsehsender übersät. Die Tausende von Stühlen und Absperrungen von Clemens ’ Bestattung waren verschwunden, und jetzt belegten Souvenirjäger, Demonstrante n u nd Pilger den Platz, sowie all die Journalisten, die in Scharen nach Rom geströmt waren, um für das am nächsten Tag beginnende Konklave vor Ort zu sein. Die Kameras waren auf den Metallschornstein der Sixtinischen Kapelle gerichtet, aus dem irgendwann zum Zeichen der erfolgreichen Wahl weißer Rauch emporsteigen würde.
Katerina näherte sich dem Ring von Schaulustigen um die CNN-Tribüne, auf der Kealy gerade in die Kameras sprach. In seiner schwarzen Wollsoutane und dem Priesterkragen sah er sehr wie ein Priester aus. Für jemanden, der so wenig Achtung vor dem Priesterstand hatte, schien er sich in der Tracht erstaunlich wohl zu fühlen.
»… richtig, früher wurden die Stimmzettel nach der Wahl entweder mit trockenem oder mit feuchtem Stroh verbrannt, um weißen oder schwarzen Rauch zu erzeugen. Jetzt wird für die Farbe eine Chemikalie zugesetzt, weil der Rauch bei den letzten Konklaven immer wieder Verwirrung stiftete. Offensichtlich gesteht selbst die katholische Kirche es sich gelegentlich zu, sich das Leben durch die Wissenschaft erleichtern zu lassen.«
»Was haben Sie über den morgigen Tag gehört?«, fragte die Korrespondentin an Kealys Seite.
Kealy wandte sich wieder zur Kamera. »Nach meiner Einschätzung gibt es zwei Favoriten. Kardinal Ngovi und Valendrea. Ngovi wäre der erste afrikanische Papst, den es je gegeben hat, und er könnte eine Menge für seinen Heimatkontinent tun. Sehen Sie doch nur, was Johannes Paul II. für Polen und Osteuropa bewirkt hat. Afrika könnte gleichfalls von einem Kirchenführer aus den eigenen Reihen profitieren.«
»Aber sind die Katholiken reif für einen schwarzen Papst?«
Kealy zuckte mit den Schultern. »Was spielt das noch für eine Rolle? Heutzutage leben die meisten Katholiken i n S üd- und Mittelamerika und in Asien. Die europäischen Kardinäle sind nicht mehr in der Überzahl. Alle Päpste seit Johannes XXIII. haben dieser Tatsache Rechnung getragen, das Kardinalskollegium erweitert und zahlreiche Nicht-Italiener berufen. Nach meiner Ansicht wäre der Kirche mit Ngovi besser gedient als mit Valendrea.«
Katerina lächelte. Kealy rächte sich offensichtlich an dem selbstgerechten Alberto Valendrea. Er hatte den Spieß umgedreht. Vor neunzehn Tagen hatte Kealy von Valendrea eine Breitseite kassiert und war auf dem besten Wege zur Exkommunikation gewesen. Doch während der Sedisvakanz konnte der Gerichtshof, genau wie alle anderen Institutionen der Kurie, keine Entscheidungen treffen. Nun stand also der Beschuldigte vor einer Fernsehkamera, die sein Bild in die ganze Welt übertrug, und machte seinen Hauptankläger schlecht, einen sehr ernst zu nehmenden Kandidaten der bevorstehenden Wahl.
»Warum sind Sie der Meinung, dass die Kirche mit Ngovi besser fahren würde?«, fragte die Korrespondentin.
»Valendrea ist Italiener. Die Kirche bewegt sich aber seit Jahrzehnten stetig von der italienischen Vorherrschaft weg. Valendreas Wahl wäre ein Rückschritt. Außerdem ist er zu konservativ für die Katholiken des einundzwanzigsten Jahrhunderts.«
»Man könnte einwenden, dass eine Rückkehr zu den Wurzeln und zur Tradition der Kirche gut tun würde.«
Kealy schüttelte den Kopf. »Seit vierzig Jahren, seit dem Zweiten Vatikanischen Konzil, wird die Kirche modernisiert – und so ist es gelungen, sie zu einer weltweiten Institution zu
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