Urbi et Orbi
zweiunddreißig, alleinstehend und lebte in Medjugorje. Die Erscheinungen, die ihr täglich widerfuhren, wurden immer wieder von Tausenden Gläubigen in der St. Jakobskirche bezeugt. Die Führerin erklärte, Jasna sei eine introvertierte, schweigsame Frau, nehme sich aber die Zeit, Besucher zu empfangen.
Michener warf Katerina einen Blick zu und sagte: »Sieht so aus, als wäre die Auswahl begrenzt. Wir fangen mit Jasna an.«
»Jasna kennt allerdings nicht alle zehn Geheimnisse, die die Madonna den anderen enthüllt hat«, fuhr die Führerin fort, und Michener wandte seine Aufmerksamkeit wieder ihren Erklärungen zu.
»Die fünf anderen kennen alle zehn Geheimnisse. Wenn auch die sechste Seherin das Geheimnis erfährt, werden die Visionen, so heißt es, enden, und die Heilige Jungfrau wird für alle Atheisten ein sichtbares Zeichen ihres Willens zurücklassen. Doch die Gläubigen dürfen mit ihrer Umkehr nicht auf dieses Zeichen warten. Jetzt ist die Zeit der Gnade. Eine Zeit der Glaubensvertiefung. Eine Zeit der Bekehrung. Denn wenn das Zeichen erscheint, wird es für viele zu spät sein. So lauten die Worte der Jungfrau. Sie sagen die Zukunft voraus.«
»Was machen wir jetzt?«, flüsterte Katerina ihm ins Ohr.
»Ich würde sagen, wir suchen sie trotzdem auf. Egal was dabei herauskommt, ich bin jedenfalls neugierig. Außerdem habe ich einen ganzen Sack voll Fragen, und wenn jemand die beantworten kann, dann sie.«
Die Führerin zeigte durch die Windschutzscheibe auf den Erscheinungsberg.
»Hier hatten die ersten beiden Seherinnen im Juni 1981 die erste Erscheinung – in einem strahlenden Lichtkranz stand eine wunderschöne Frau, ein Kleinkind im Arm. Am nächsten Abend kamen die beiden Kinder mit vier Freunden und Freundinnen zurück, und wieder erschien die Frau, diesmal mit einer zwölfsternigen Krone gekrönt und in einem perlgrauen Kleid. Die Kinder empfanden es so, als habe die Frau sich in die Sonne gewandet.«
Die Führerin zeigte auf einen steilen Pfad, der vom Dorf Podbrdo zu einem Gipfelkreuz führte. Obwohl vom Meer dichte Wolken aufzogen, wanderten Pilger den Pfad entlang.
Gleich darauf war der ganze Kreuzberg zu sehen. Er lag etwa einen Kilometer von Medjugorje entfernt; sein abgerundeter Gipfel war über fünfhundert Meter hoch.
»Das Kreuz auf dem Gipfel wurde in den Dreißigerjahren von der Kirchengemeinde errichtet und steht nicht mit den Erscheinungen in Zusammenhang. Allerdings haben viele Pilger von Lichterscheinungen im Kreuz oder im Umkreis des Kreuzes berichtet. Daher gehört der Gipfel nun ebenfalls mit zur Wallfahrt. Es lohnt die Mühe, bis ganz nach oben zu wandern. «
Der Bus wurde langsamer und fuhr nach Medjugorje hinein. Das Dorf unterschied sich deutlich von den ärmlichen Gemeinden, durch die sie auf dem Weg von Split gekommen waren. Niedrige Steinhäuser in verschiedenen Farbtönen von Rosa, Grün und Ocker wichen höheren Gebäuden – Hotels, die, wie die Führerin erklärte, vor kurzem eröffnet worden waren, um der Pilgerströme Herr zu werden. Dazwischen wimmelte es von Duty-free-Shops, Mietwagenagenturen und Reisebüros. Zwischen Kleinlastern fuhren glänzende Mercedes-Taxis.
Der Bus hielt vor den Doppeltürmen der St. Jakobskirche. Auf einer Anschlagtafel stand zu lesen, dass die Messe den ganzen Tag über in verschiedenen Sprachen gehalten wurde. Vor der Kirche erstreckte sich ein betonierter Platz, und die Führerin erklärte, die freie Fläche werde abends zum Versammlungsort für die Gläubigen. Michener, der in der Ferne Donner grollen hörte, fragte sich, ob die Gläubigen sich vom Wetter abhalten lassen würden.
Eine Patrouille marschierte über den Platz.
»Die Soldaten gehören zu den spanischen Blauhelmen, die in dieser Region stationiert sind«, erklärte die Führerin.
Michener und Katerina hängten sich ihre Schultertaschen um und stiegen aus dem Bus. Michener trat zu der Führerin . » Entschuldigen Sie, wo können wir Jasna finden?«
Die Frau zeigte eine der Straßen hinunter. »Sie wohnt in dieser Richtung, ungefähr vier Kreuzungen weiter. Aber sie kommt jeden Nachmittag um drei in die Kirche, und manchmal auch abends zum Gebet. Sie wird in Bälde hier sein.«
»Und die Erscheinungen, wo hat sie die?«
»Meistens in der Kirche. Darum kommt sie dorthin. Ich muss Ihnen aber sagen, dass sie wahrscheinlich nicht bereit ist, Sie unangekündigt zu empfangen.«
Er verstand den Wink. Wahrscheinlich wollte jeder Pilger mit einem der Seher
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