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Urkundenfälschung: Journal 2000-2010 (German Edition)

Urkundenfälschung: Journal 2000-2010 (German Edition)

Titel: Urkundenfälschung: Journal 2000-2010 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Nizon , Wend Kässens
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Mutproben und Kopfakrobatik – Hintersinnung – zu bestehen hatte …: wie mir diese Figur entstanden ist. Und wie all die Motive – des Liebesversehrtseins, das Springenwollen, das Fliegen in allen Variationen inklusive Tauben und Schwalben, Zirkus, das NUMEN, die Felle, Pelze, das Nichtzurechtkommen mit den einfachsten Dingen des Lebens, um von den Nebenfiguren wie Carmen, Ghislaine, Said, den Brüdern im Waschsalon erst gar nicht zu reden (die »Tante« nicht zu vergessen), der pullovertragende Wirt … so zwingend entstanden sind und sich wie in einer Partitur respondieren, zurück- und hervortreten, korrespondieren (und dies auf sowohl natürliche wie beinahe abstrakte Weise). Es ist ja wieder die Flucht in die Freiheit, und die Freiheit ist jetzt hier das Entschwinden im Wahnsinn, darum ja auch das Happy-End. Ein ganz diesseitiges schmerzliches wie metaphysisches Buch, ganz Kunst, ganz Prosakunststück, wie der Verlag es hervorhebt. Und die aberwitzige Komik inmitten von Schmerz und Einsamkeit. Was ich nicht fassen kann, ist die die Tatsache, daß dieses Buch, ganz Erfindung in der leichtesten Gangart, ganz Handlung, voller Gespräch und Monolog, auch Figuren, gewissermaßen ohne mein Wissen und Wollen aus mir heraustreten oder besser -kriechen konnte und sich wie ein Puzzle aufs exakteste zusammenfügte.
     
    Wenn ich nun das jeweilige Ende der letzten Bücher ins Auge fasse, so ist die Wiederholung einer Art Todessucht oder – sagen wir – eine Tendenz, dem irdischen Leben zu entkommen, dem Packen, dem zu schwer gewordenen Packen, entsagen zu können, unverkennbar. Stolz zieht es vor, im Erfrierungstod einzuschlafen. Er möchte das Leben nicht antreten. Im Jahr der Liebe geht das Buch des immerhin Geretteten mit den Worden »Was lärmt ihr so und seht doch, daß ich schlafe« zu Ende. Der Erzähler ist in den schöpferischen Traum entkommen. Im Bauch des Wals schreibt der Erzähler aus der Zelle schöpferischen Eingekapseltseins heraus (eben aus dem Wal), er ist jetzt ganz »im Bilde«, doch hat er den Marschierer als Alter ego und den Verlorenen Soldaten als Schriftstellersymbole aufgestellt. Er wird zum Clochard, es findet eine Mutation von Künstler zu Clochard oder Streuner statt (Büßer?). Hund kennt den Künstler nur noch als feixende Nebenfigur. Der Erzähler ist in der Freiheit, nachdem er den Künstler losgeworden ist, (Narrenfreiheit?) Einsamkeit. Und nun dieser allerdings wiederum jüngere Erzähler, alles andere als ein Schriftsteller, Akrobatensproß, wenigstens in der Einbildung oder Selbstbehauptung, der, versehrt durch die Liebe – die Liebe die einzige tragfähige Lebenshaftung und -hoffnung –, nach einem letzten Rundgang, nach einer absurd tapferen Umschau, innerlich entfliegt, wohin? In den Traum? Erlösung? Himmel? Himmelblau (Buchhimmelblau, sagte Handke von meinen Sätzen im letzten Journal). Er entfliegt in den FREIEN FALL. Daß dieses Buch mir (in meiner Einsamkeit) entstanden ist: ein wahres Wunder.

    14. April 2005, Paris
     
    Canetti, Entwurf
     
    Ich habe ihn immer den größten Menschenerklärer genannt, darum sind mir ja auch seine Essays so lieb. Er hatte diese nie nachlassende Neugier auf Menschen, er pirschte sich innerlich an sie heran, spürbar, es war eine brennende Neugier, er schlüpfte in ihre Haut, er war ja auch Komödiant, man denke nur daran, wie er sich am Telefon in der Sprachmaske der Hausbesorgerin meldete, um unliebsame Anrufer abzuwimmeln; er hatte mich davon ins Bild gesetzt, um mir klarzumachen, daß ich in solchem Falle nur gleich meinen Namen nennen möchte. Ich habe ihn auch einmal in der Rolle der Hausbesorgerin, mit der Altweiberstimme, am Apparat gehabt, jedoch gleich den Canetti dahinter erkannt, möglicherweise weil ich um die Taktik wußte, erkannt hätte ich seine Stimme trotz allem gleich. Ich kannte sie ja auch aus unzähligen Gesprächen, stunden- und nächtelangen. Ja, in London an der Thurlow Road in Hampstead hatte ich in den ausgehenden sechziger Jahren unendlich lange Zusammenkünfte mit ihm. Ich kam jeweils am späten Nachmittag an und verließ ihn manchmal auch erst im Morgengrauen oder bei Tagesanbruch. Zwischendurch gingen wir essen, oft in ein Ristorante, kein Feinschmeckerlokal, Canetti aß gern und viel, wie er damals ja auch ein starker Raucher gewesen ist. Er sagte mir, er arbeite immer nachts, tagsüber halte er sich in Cafés oder Teestuben auf, er beobachtete, notierte in solchen anspruchslosen Lokalen, er kannte ja auch

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